Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Hölderlin das Gegenteil von Dichtung, die gerade nicht lebendig im Sinne von alltäglich, lebensnah sein soll. Er sieht im Genie ein Wunder der Reinheit und stilisiert den idealen Dichter zum göttlichen Medium, das fast ohne eigenes Zutun, wie ein Kind handelt. Zwar wirken im Dichter auch Not und Zucht, wie es in der Rhein-Hymne heißt, also der Leidensdruck des Empirischen und die angelernten Fähigkeiten, aber das eigentliche Wesen der Genialität liegt in der Naturhaftigkeit:
Ein Räthsel ist Reinentsprungenes.
Auch Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn
Wie du anfiengst, wirst du bleiben,
So viel auch wirket die Noth,
Und die Zucht, das meiste nemlich
Vermag die Geburt,
Und der Lichtstrahl, der
Dem Neugebornen begegnet. 11
Das Paradox besteht aber nun darin, daß ausgerechnet Hölderlin, der die Dichtung von sich und seiner Umwelt so weit wegrückt, wie es nur je ein deutscher Dichter vermochte, sich fremde Schauplätze sucht, mythische Motive bevorzugt, auch sprachlich wie auf Stelzen geht, die wachsen und wachsen, daß ausgerechnet Hölderlin mit seinen sehr irdischen Zweifeln, Liebesnöten, Depressionen, Sehnsüchten und wirtschaftlichen Existenzängsten in seiner Dichtung von Jahr zu Jahr sichtbarer wird. Wie sich die Zettelsuche vor Suzette Gontards Frankfurter Fenster, die kurze Erfüllung in Bad Driburg oder ihr Briefwechsel, wenngleich wundersam verwandelt, aufgehoben in Hegels dreifachem Sinne, im Hyperion wiederfinden, habe ich vergangenen Dienstag anzudeuten versucht. Aber auch in den späten Hymnen, Elegien und Nachtgesängen, die mir wie den meisten Lesern so viel reicher, originärer und tiefgründiger als das Frühwerk erscheinen, sind bis in die Melodie, bis in die syntaktische Verschlungenheit der Satzeinheiten, bis in den nach vorn eilenden, dann wieder stockenden, wie entlang einer Klippe sich hangelnden Rhythmus erfüllt von der Wirklichkeit, von Hölderlins realen Erfahrungen, etwa im Gedicht »Patmos« das ungeheure Bild, das er von den Gewaltmärschen allein quer durch die Schweiz mitgebracht hat, das wirklich erlebte Bild der Berge und ihrer Bewohner, das ihm zu einem Bild aller Schicksalsgewalt und aller Menschen gerät:
Im Finsteren wohnen
Die Adler und furchtlos gehen
Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
Auf leichtgebaueten Brüken.
Drum, da gehäuft sind rings
Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten
Nah nah wohnen, ermattend auf
Getrenntesten Bergen,
So gieb unschuldig Wasser,
O Fittige gieb uns, treuesten Sinns
Hinüberzugehen und wiederzukehren. 12
Ein Gebet ist das, ein Gebet wie jenes allein in der Auvergne, von dem er nach der Ankunft in Bordeaux der Mutter schrieb, gesprochen von dem, der den Halt verloren hat und sich der Gnade anvertraut, die am Abgrund so realistisch erscheint wie ein Adler, der den Fallenden auffängt und nach Hause bringt.
Auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette, – da hab’ ich auch ein Gebet gebetet, das bis jetzt das beste war in meinem Leben und das ich nie vergessen werde. Ich bin erhalten – danken Sie mit mir! 13
Und umgekehrt Jean Pauls fortlaufende Selberlebensbeschreibung, die alles, aber auch wirklich alles Mögliche enthüllt, nur kaum etwas oder jedenfalls nichts Zuverlässiges über Jean Paul: Niemals habe ich einen Schriftsteller gelesen, der sich so oft erwähnt, namentlich mal in erster, mal in dritter Person erwähnt, der seine Umwelt in diesem oder jenem datierten Augenblick so ausführlich beschreibt, auf Ereignisse seiner unmittelbaren Gegenwart eingeht, wirkliche Personen auftreten läßt und sein Schreiben ständig reflektiert – und sich gerade in der Entblößung so konsequent abschirmt wie Jean Paul. Der deutsche Schriftsteller, dessen Werk dem Leben am nächsten steht, ist darin selbst am fernsten. Das ist wohlgemerkt auch eine Kunst: einen ganzen Absatz wie den folgenden über sich zu schreiben, ohne daß der Leser etwas über einen erfährt.
Ich gesteh’ es, ich habe unter dem ganzen Klub wieder den närrischen Gedanken gehabt, den ich mir schon oft, so toll er ist, nicht aus dem Kopfe schlagen konnte – denn er wird freilich ein wenig dadurch bestätigt, daß ich wie ein Atheist nicht weiß, wo ich her bin, und daß ich mit meinem französischen Namen Jean Paul durch die wunderbarsten Zufälle an ein deutsches Schreibepult getrieben wurde, auf dem ich
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