Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
den ich schreibe, nur eine Episode ist, kommt mir wie jedem Narr das, was mich umtreibt, naturgemäß wie das Natürlichste der Welt vor. Zumal als Romanschreiber muß ich die Objektivierung des eigenen Ichs als konstitutiv nicht nur für die Literatur, sondern als konstitutiv für die menschliche Sprache erleben, die notwendig propositional ist, genau gesagt: in frühestem Alter propositional wird . Daß ich von mir als Enkel, Sohn, Vater, Mann, Liebhaber, Freund, Romanschreiber, Berichterstatter, Orientalist, Nummer zehn, Navid Kermani oder Poetologen spreche, kann für mich selbst niemals nur Ausdruck meiner Zeit sein, wie immer es sich von außen darstellt. Die Verfremdung stellt sich mir viel simpler als ein grundsätzliches Verfahren der Literatur dar oder genauer: als ein Versuch, die Bewußtwerdung des Kindes nachzuahmen. In seiner Selberlebensbeschreibung schreibt Jean Paul, da er zurück in die erste Person wechselt:
Nie vergeß’ ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht »ich bin ein Ich« wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehend blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. 21
Das ist ein Beginn, bei jedem Kinde, nur daß andere Kinder den Moment nicht wie eine Offenbarung erleben oder vielleicht erleben, aber vergessen. Es ist wahrscheinlich in der Regel auch mehr ein Übergang, wenn meine Beobachtung als Vater mich nicht täuscht: Von der dritten in die erste Person zu wechseln, wenn ein Kind von sich spricht, geschieht im Alter von zwei, drei Jahren nicht in einem einzelnen Moment, sondern tastend, versuchsweise, fragend, bis es feststeht: Ich bin ein Ich. Das Kind hat nicht mehr nur Empfindungen und Wünsche. Es weiß sie damit als seine eigenen Empfindungen und Wünsche. Daß das Ich die Welt konstituiert, ist also nicht hohe Philosophie, sondern frühkindliche Erfahrung. Sie geschieht in jedem Leben, bei jedem Menschen, wiewohl es geistesgeschichtlich gewiß nicht zufällig just die Zeit von Jean Paul und Hölderlin ist, die Wende zum neunzehnten Jahrhundert, in der Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexion zum Ausgangspunkt von Literatur und Philosophie werden, man denke nur an Kants Betrachtung des eigenen Vermögens, an Schlegels frühromantische Poetik der unendlichen Selbstreflexion, an Rousseaus Vorwurf des Narzißmus generell an alle Dichter und Philosophen und schließlich an den Idealismus, der nicht seinem Erfahrungsgehalt, wohl aber seiner Denkstruktur nach ein mystisches Projekt ist: Was immer sich reflektiert, muß aus sich herausgehen und damit sich verlieren, um sich zu finden, damit die unvermeidliche Spaltung des Selbstbewußtseins in Objekt und Subjekt. Und Jean Paul und Hölderlin gehören ja nicht einfach den 1790er Jahren an, sondern wurden beide durch Kant geprägt und durch Fichte in helle Aufregung versetzt, ohne sich mit dem Idealismus zu beruhigen, der um sie herum zum Trend wurde.
Auch wenn andere Kinder als Jean Paul es kaum so bewußt erleben, bedeutet die Entdeckung, daß Ich ein Ich ist, eine gewaltige Erhöhung der eigenen Person, die von sich nicht mehr wie von allen anderen spricht. Schon sprachlich nimmt sich das Ich als Mittelpunkt der Welt wahr, wie das Hölderlin achtzehnjährig in Versen zum Ausdruck brachte, die der Roman, den ich schreibe, zunächst nur ideengeschichtlich für bemerkenswert hält. Tatsächlich sind sie mehr: Hölderlins früheste Verse sind auch als poetischer Ausdruck jener Bewußtwerdung zu hören, die jedem Menschen geschieht. Ich bin ein Ich.
O dich zu denken, die du aus Gottes Hand
Erhaben über tausend Geschöpfe giengst,
In deiner Klarheit, dich zu denken,
Wenn du dich zu Gott erhebst, o Seele!
[...]
So jauchzt ihn nach, ihr Menschengeschlechte! Nach
Myriaden Seelen singet den Jubel nach –
Ich glaube meinem Gott, und schau’ in
Himmelsentzükungen meine Größe. 22
Ein weiteres Paradox besteht darin – und Selbsterkenntnis ist bekanntlich ihrer Struktur nach paradoxal –, daß ich mich sprachlich zum Mittelpunkt der gesamten Welt erklären muß, um überhaupt begreifen zu können, daß alle anderen Menschen
Weitere Kostenlose Bücher