Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Toten sprechen, »die sonst ins ewige Schweigen gestoßen werden«. 18 Vielleicht spricht man erst über und nur noch mit sich selbst, wenn man selbst zu einem Toten wird. Daß nur bleibet, was stiften die Dichter, wurde mir bei Coetzee in der unmittelbaren Bedeutung anschaulich, die Jean Paul meint, als er in seiner eigenen Selberlebensbeschreibung ein Weihnachtsfest ausläßt.
Pauls Weihnachtsfest selber zu beschreiben, erlassen mir wohl gern alle die Zuhörer, welchen in Pauls Werken Gemälde davon, die ich am wenigsten übertreffen kann, zu Händen gekommen. 19
Der Großvater, dessen Leben der Roman erzählt, den ich schreibe, war kein Dichter und hat mit seinem Buch nichts gestiftet. So sehr er sich um Aufrichtigkeit bemüht – womöglich weil er sich zu sehr um Aufrichtigkeit bemüht oder um die Aufrichtigkeit eines einstigen Bankdirektors –, bliebe von ihm schon eine Generation unter meiner nichts, nicht einmal ein Name, da sein Landgut nicht mehr der Familie gehört, die nach der Revolution ohnehin fast vollständig ausgewandert ist, die Schule, die er für die Armen gebaut, nicht mehr seinen Namen tragen, und in Isfahan allenfalls noch das eine oder andere Belegschaftsphoto im Archiv oder auf den Fluren der Iranischen Nationalbank an ihn erinnert oder nein, nicht auf den Fluren, weil darauf die Frauen ohne Kopftuch zu sehen sind, nur in den Archiven. John Coetzee hingegen ist unter allen Romanschreibern der Gegenwart einer der größten. Nie im Leben erinnern sich die Menschen, die ihm einmal viel bedeuteten, wie sie sich in Summertime erinnern, so anschaulich, so durchdringend kalt und detailreich bis hin zur Sorte des Tees, den sie Mitte der siebziger Jahre für den damals noch völlig unbekannten, ungelenken und unsympathischen John Coetzee gekauft haben, »sehr englisch, aber nicht sehr angenehm, ich fragte mich, was wir mit dem Rest der Packung machen sollten«, 20 wie auch der Roman, den ich schreibe, das Leben eines Großvaters ausmalt, wo sonst nur Aktenzeichen und Namenslisten von ihm blieben. Als Leser will ich nicht einmal wissen, ob es diese Menschen, Julia Frankl, Margot Jonker, Adriana Nascimento, Martin J., Sophie Denoёl, die im Roman einem John Coetzee viel bedeuteten, ob es sie in John Coetzees Leben wirklich gab. So wirklich, wie John Coetzee sie und damit sich schuf und es Jean Paul in seinen Selberlebensbeschreibungen erst recht gelingt, können Gottes Geschöpfe gar nicht sein oder doch sein, indes nicht sich offenbaren.
Wenn ich also nach Jean Paul und Hölderlin frage, frage ich auch: Warum John Coetzee, warum John Berger und Istvan Eörsi, warum Wolfgang Hilbig, Rolf Dieter Brinkmann, Peter Kurzeck, Elfriede Jelinek, Rainald Goetz, Ingo Schulze, Ruth Schweikert und Navid Kermani, um nur diejenigen Selberlebensbeschreibungen anzuführen, lesenswert oder nicht, die der Roman, den ich schreibe, bisher erwähnt, warum gerade in diesen Jahren so viele Romanschreiber, die von sich in der dritten Person sprechen? Ich habe keine Ahnung und würde, um die Häufung zu bestreiten, eher Ingeborg Bachmann anführen, die in der allerersten Poetikvorlesung, die in Frankfurt nach dem Krieg gehalten wurde, Beispiele aus allen Jahrzehnten anführte, in denen ein Autor sein Ich vorführt, ausgestattet oder nicht ausgestattet mit seinem eigenen Namen und allen seinen Daten, Henry Miller und Ce´line, Tolstoi und Dostojewski, Italo Svevo und Marcel Proust. Und angenommen, meine Ich-Bezogenheit, insofern sie zugleich, wie Ingeborg Bachmann betonte, eine Ich-Kaschierung ist, wäre tatsächlich nur ein Zeitphänomen, wie die Rezensenten wahrscheinlich stöhnen werden, dann folgte der Roman, den ich schreibe, erst recht allen möglichen anderen Moden, Blog- und Tagebuchliteratur ja auch, dazu ein veritables Krebsbuch, überhaupt das Thema des Sterbens, Mutterbuch, Einwandererepos, Islamdebatte und der Mut zu dilettieren, der nun wirklich ein Trend geworden ist. Caravaggio ist auch jüngst von Arnold Stadler und Martin Walser für die deutsche Literatur wiederentdeckt worden, überhaupt Rom, ich ahne es schon, bitte bitte bitte kein weiteres Stipendiatenbuch aus der Villa Massimo, wo ich – erraten Sie’s? – im Atelier Nummer neun wohnte und der Romanschreiber nebenan.
Mögen sich die Rezensenten über mich erheben, wie sie wollen, habe ich selbst doch nun einmal nicht als tausendster deutscher Dichter, sondern zum ersten Mal in Rom gelebt. Und einmal von Rom abgesehen, das in dem Roman,
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