Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
gemeint sein könnte, darüber werde ich in der fünften Vorlesung sprechen. Am heutigen Dienstag möchte ich zunächst das erste Wort betrachten: das Ich , das nicht nur in dem Roman, den ich schreibe, sondern in so vielen anderen Romanen unserer Jahre vom Subjekt zum Objekt wird. So wie Jean Paul in seiner Selberlebensbeschreibung redet etwa auch John Coetzee, dessen Tagebuch eines schlechten Jahres ich deshalb bereits in der ersten Vorlesung ins Spiel brachte, in seinen Romanen immer wieder über einen John Coetzee in dritter Person. Eine noch merkwürdigere Selberlebensbeschreibung hat Coetzee mit seinem jüngsten Buch Summertime vorgelegt: Menschen, vor allem Frauen, die ihm viel bedeuteten, reden über John Cotzee, der verstorben sei. Das Bild, das sie entwerfen, ist so unvorteilhaft, daß mir aufgeht, wieviel Rücksicht ich in dem Roman, den ich schreibe, also doch nahm, nicht vor den Lesern und damit, so Gott will, auch vor Ihnen, den Hörerinnen und Hörern der diesjährigen Frankfurter Poetikvorlesung, das nicht, jedenfalls nicht anfangs, da ich sie kleingeschrieben ausgesperrt und auf Sie großgeschrieben nun wirklich nicht hoffen durfte, Rücksicht vielmehr auf mich selbst, indem ich mich angesichts niederer Beschäftigungen, banaler Gedanken und billiger Zweifel zwar als schwächlich, aber bei weitem nicht in meiner ganzen Erbärmlichkeit zu sehen bereit war, die durch eine grundsätzliche, metaphysisch bedingte Erbärmlichkeit aller Menschen noch gesteigert würde, da ich in dem Fall nicht einmal negativ eine Besonderheit reklamieren könnte.
Zur Entlastung kann ich nur das nachlassende Interesse an mir selbst anführen, womöglich meinem mittleren Alter geschuldet, das mich schließlich vom Ich fort und zu dem Großvater geführt hat, dessen Leben der Roman im Roman erzählt, den ich schreibe. Ich sagte bereits, daß der Romanschreiber, der sonst nur Enkel, Sohn, Vater, Mann, Liebhaber oder Freund, regelmäßig Berichterstatter, dann wieder Orientalist, ein Jahr lang die Nummer zehn, an einigen Stellen Navid Kermani und in diesem Semester auch Poetologe genannt wird, in Ausnahmefällen in die erste Person wechselt: Wenn jemand stirbt, sagt der Romanschreiber ich. Und wenn er liest – und er liest, wie Sie mir inzwischen zugeben werden, er liest viel in dem Roman, den ich schreibe, – wenn er liest, sagt er ebenfalls ich. Die zweite Ausnahme hätte ich in der ersten Vorlesung allerdings allgemeiner formulieren müssen, da der Romanschreiber nicht nur als Leser in der ersten Person spricht, sondern wann immer er sich in einem ästhetischen oder religiösen Erleben verliert, also auch in einem Konzert oder vor einem Gemälde, in einer Kirche oder im stillen Gebet.
Nun gibt es eine dritte Ausnahme, die ich überging, um Sie nicht noch mehr zu verwirren, als Jean Paul es in der ersten Vorlesung verlangte, eine Ausnahme, die sich im Laufe des Romans, den ich schreibe, so häuft, daß sie beinah zur Regel wird: Auch wenn das Leben des Großvaters erzählt wird, wechselt der Romanschreiber, der zugleich Enkel ist, in die erste Person. Daß der Roman, den ich schreibe, derzeit Das Leben seines Großvaters heißt und damit einen anderen Titel trägt, als im Vertrag steht, ist ein Hinweis darauf, daß der Romanschreiber im Laufe des Romans, den ich schreibe, immer unwichtiger wird. Wichtig wird eine andere, eine ihm beinah fremde Person, ungefähr 1894 in einem fernen Land geboren, eben dort 1986 gestorben. Daß es das Leben seines und nicht das Leben meines Großvaters bleibt, obwohl der Romanschreiber als Enkel in erster Person spricht, ist ein Hinweis darauf, daß das Ich in der Literatur auch und erst recht dort ein Er bleibt, wo es Ich sagt. Nur dort, wo es auf das Ich nicht mehr oder noch nicht wieder ankommt, kann ich mir in dem Roman, den ich schreibe, den Pragmatismus erlauben zu sagen: Ich.
Coetzee, der eine Generation älter ist als ich, gibt sich bereits Rechenschaft, ebenso Istvan Eörsi, der in dem Roman stirbt, den ich schreibe, und auf seine Weise der Großvater in Isfahan, der eine Selberlebensbeschreibung schrieb, die niemand drucken wollte; was Coetzee, Eörsi, Großvater an Haaren übrig: grau, die Haut rissig, was unter der Haut erst recht Anlaß zum Kummer, ihre Augen so trübe, wie meine, so Gott will, als Romanschreiber noch werden. Als er etwa in meinem Alter war, wollte auch John Coetzee, so schreibt John Coetzee in Summertime über John Coetzee, statt über sich selbst mit den
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