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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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die er antizipiert? Wenn z.B. der Sterbende schon in jene finstere Wüste allein hingelegt ist, um welche die Lebendigen ferne, am Horizont, wie tiefe Wölkchen, wie eingesunkne Lichter stehen, und er in der Wüste einsam lebt und stirbt: dann erfahren wir nichts von seinen letzten Gedanken und Erscheinungen – – Aber die Poesie zieht wie ein weißer Strahl in die tiefe Wüste, und wir sehen in die letzte Stunde des Einsamen hinein. 33
     
    Um sich den Tod begreiflich zu machen, in die letzte Stunde des Einsamen hineinzusehen, schildert Jean Paul den Vorgang des Sterbens häufiger und realistischer als je ein deutscher Dichter, von Amandus’ qualvollem über Wuzens leichtem bis Schoppes trostlosem Sterben wohl dutzende Sterbensszenen allein in den sechs Bänden meiner Dünndruckausgabe, wieviel mehr in der schrankfüllenden Gesamtausgabe, die – nicht einmal sie – dennoch nicht vollständig ist, und dem Nachlaß, der gedruckt weitere vierzigtausend Seiten ergäbe. Und immer die Sehnsucht des Engels als Aufgabe:
     
    Ach, ich will einmal sterben wie ein Mensch, damit ich seinen letzten Schmerz erforsche. 34
     
    Wie der embedded journalist einer unterlegenen Armee kriecht Jean Paul sogar in den Sterbenden hinein, um die Vernichtung als Erlebender zu beschreiben, so beim Scheintod Siebenkäsens und seinem lebendigen Begräbnis, so in der Rede des toten Christus und dem Erschrekken des Engels, der die Gestalt eines Menschen annimmt, um den Augenblick des Todes kennenzulernen, so in den gleich zwei lebendigen Begräbnissen der Unsichtbaren Loge , vergleichbar im Blick Viktors im Hesperus auf seine eigene wächserne Porträtbüste, mit dem er sein eigenes Nichtsein zu erfassen sucht. So psychologisch genau, so grauenvoll und individuell wie heutzutage in YouTube Jean Paul die Ausdrücke des Sterbens geraten, für die es eine Entsprechung in der Kunst vielleicht nur in den Sterbensgesichtern von Caravaggio gibt, scheint Jean Paul eben hierin am ehesten noch Trost zu finden, hier in der Vergegenwärtigung des Todes.
     
    Auch aus dem erhabensten Nichts wird Nichts geboren 35
     
    weiß auch Hölderlin. Wer aber den Tod erlebt, kann nicht nichts sein, und wer über den Tod hinausschaut, hat in die Unendlichkeit gesehen.
     
    Rund um uns her ist doch nichts so lebendig als unser Ich. Und dieses Lebendige sollte dem Unlebendigen gleich werden? Das Bewußtsein ist eigentlich das höchste Leben. 36
     
    Vergangene Woche sagte ich, daß ich mir in dem Roman, den ich schreibe, nur dort den Pragmatismus erlaube zu sagen: Ich, wo es auf das Ich nicht mehr oder noch nicht wieder ankommt. Wenn jemand stirbt, sage ich Ich. Und wenn ich lese oder allgemeiner formuliert: mich in einem ästhetischen oder religiösen Erleben verliere, also auch in einem Konzert oder vor einem Gemälde, in einer Kirche oder im stillen Gebet, sage ich ebenfalls Ich. Das ist nicht ganz richtig, genau gesagt ist nur der zweite Satz richtig. Im ästhetischen oder religiösen Erleben mag Navid Kermani den Eindruck habe, daß alles zurücktritt, was sein irdisches Leben ausmacht, Respekt, Schmerz, Dankbarkeit, Liebe, Verzückung, Treue, Zweifel, Nüchternheit, Kenntnis, Begeisterung, Überlegung. Anders ist es, wenn jemand stirbt. Um eines Toten zu gedenken, bin ich auf mich selbst zurückgeworfen mit allem, was mein irdisches Leben ausmacht.
    Aus Sicht Gottes ist der Tod das Allgemeinste: Alle sterben. Aus Sicht des Menschen sind wir nirgends so sehr Individuum wie im Augenblick des Todes: Ein Ich stirbt. Ein Du stirbt. Der Roman, den ich schreibe, beharrt auf der Sicht des Menschen. Wenn ich im letzten Viertel der heutigen Vorlesung nicht mehr nur über den Tod, sondern über die Toten sprechen möchte, deren unabsehbare Abfolge eine Selberlebensbeschreibung ergibt, kann ich deshalb nur über einen Toten sprechen, mit Namen und allen seinen Daten, und nur in erster Person.
     
    Wie einfältig ists auf der einen Seite, alle die nennen zu wollen, vor denen mein zugeknöpftes Geschirre kann vorbeigegangen sein, da ich ja die Namen des ganzen Adreßkalenders und alle Kirchenbücher hersetzen könnte – und wie schwer auf der andern, gerade wenn 1000 Millionen Menschen sich vor der Feder hinauf- und hinuntenstellen, auf einige das Schnupftuch zu werfen. 37
     
    Ich möchte über den Toten sprechen, an den ich jedesmal denke, wenn ich in diesen Wochen dienstags den Campus der Goethe-Universität betrete, die seine Universität war. Bevor ich dafür, obschon

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