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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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habe länger darüber nachgedacht, mit Blick auf andere Folgerungen schon vor seinem Tod, und glaube jetzt, daß dem Impuls, ihn auf den Photos und in den Nachrufen nicht wiederzuerkennen, der ein Impuls ist (ihn nicht wiedererkennen zu wollen, zu ahnen oder zu behaupten, daß da noch ein anderer Mensch war, der sich zum Schluß, also auch mir geöffnet hat), ich glaube jetzt, daß diesem Impuls der Grund für meine Zuneigung zugrunde liegt. Ich glaube außerdem, daß er etwa Wahres anzeigt, so falsch er ist. Denn was mir an Hondrich am stärksten auffiel und imponierte, war der Wille fortzufahren, soweit es eben ging und mit klarem Blick auf den baldigen Tod. So genau er wußte, daß er es nicht aufnehmen konnte mit seiner Krankheit, so entschlossen war er, nicht vorzeitig aufzugeben. Weder erlaubte er sich Selbstmitleid, noch bot er anderen eine Gelegenheit, ihn zu bemitleiden. Wie zum Beweis seines eigenen Realismus, lebte Hondrich auch nach dem Schicksalsschlag mit dem Bewußtsein, daß Schicksalsschläge eben zum Leben gehören. Hondrich weigerte sich, ein anderer Mensch zu sein, nur weil er starb.
    Nun muß ich hinzufügen, daß diese Gedanken bloße Spekulationen sind oder sogar Einbildungen. Wir haben nie darüber gesprochen. Wir haben überhaupt nur zweimal miteinander gesprochen, insgesamt vielleicht anderthalb Stunden, und davon redeten wir die meiste Zeit über die Gesellschaft, den wissenschaftlichen Betrieb, unsere Bücher und Beziehungen. Das Merkwürdige an meiner Zuneigung ist gerade, daß sie in keinem Verhältnis zu meiner Kenntnis steht. Auf ihn aufmerksam wurde ich, als der Regisseur, bei dem ich während des Studiums als Assistent und Dramaturg gearbeitet hatte, am Telefon erwähnte, daß Hondrich ein Artikel von mir in der Neuen Zürcher Zeitung gefallen habe. Den Namen kannte ich, auch Frankfurt und Soziologie assoziierte ich, doch hätte ich keinen Buchtitel oder Artikel anführen, ihn keiner wissenschaftlichen Richtung, politischen Tendenz, nicht einmal einer Generation zuschlagen können. Karl Otto klang alt und schon deshalb würdig des Respekts, zumal in Verbindung mit der langen Bibliographie, die ich ihm pauschal zuschrieb. Ich erfuhr, daß Hondrich mit seiner Frau im gleichen Haus wie der Regisseur wohnte und Krebs in einem Stadium hatte, in dem Heilung ausgeschlossen schien.
    Der Artikel, den Hondrich gelobt hatte, stellt am Beispiel literarischer Seelenreisen durch den Kosmos dar, wie die orientalische und europäische Kultur ineinander verschränkt sind. Normalerweise hätte ich mich – aus Schüchternheit, nicht aus Geiz – damit begnügt, meinen Dank und meinen Gruß ausrichten zu lassen, doch wegen der Krankheit fragte ich den Regisseur, ob Hondrich sich über das Buch freuen würde, auf dem der Artikel beruhte. – Ja, antwortete der Regisseur, und so schickte ich Hondrich den Schrecken Gottes mit einer Widmung. Kurze Zeit später sollte ich aus Du sollst im Frankfurter Literaturhaus lesen und fragte den Regisseur, ob Hondrich sich auch freuen würden, wenn ich ihn kurz besuchte. Der Regisseur erkundigte sich und antwortete dann, ja: Karl Otto Hondrich würde mich gern kennenlernen.
    Am Nachmittag vor der Lesung trank ich Tee mit ihm. Mit uns saßen seine Frau und der Regisseur am langen Eßtisch. Ich hatte mir Hondrich älter vorgestellt und war auch überrascht, daß er eine so junge und anziehende Frau hatte. Die Wohnung war in der Kargheit des heutigen Bildungsbürgertums eingerichtet, mit wenigen teuren Möbeln, Holzdielen und Wänden mit moderner Kunst statt mit Büchern, soweit ich sah. Sie roch nicht nach Vergangenheit, nach langem gemeinsamen Leben; hier hatten zwei noch etwas vor. Wir gingen einige Themen durch, die Frankfurter Allgemeine Zeitung , für die ich geschrieben hatte und er murrend weiterhin schrieb, den Islam, die nervtötende Prosa heutiger Geisteswissenschaft, die Gründe für meine Entscheidung gegen die akademische Laufbahn, die er verstand, aber nicht guthieß, schließlich Liebe und moderne Beziehungen. Wir trafen uns im Pragmatismus, mit dem wir die Institution der Ehe und überhaupt das Zusammenleben von Mann und Frau einschätzten. Mir gefiel die Neugier Hondrichs und seine Vorsicht mit Meinungen. Eher tauschten wir Eindrücke und Vermutungen aus als Kenntnisse und Urteile. Gegen Ende – mit dem Regisseur hatte ich ausgemacht, nicht lange zu bleiben – fragte ich ihn nach seiner Krankheit. Mir war klar, daß ich danach fragen mußte, weil uns

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