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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zu müssen. So willkürlich ist nur der Schöpfer, dem sich das Sein verdankt. Andere Dichter starren in den Himmel. Um aber auf die Erde zu blicken, muß man im Himmel sein.
     
    In dieser Minute aber kommen mir die Menschen wie die Krebse vor, die die Pfaffen sonst mit Windlichtern besetzet auf den Kirchhöfen kriechen ließen und sie für verstorbne Seelen ausgaben; so kriechen wir mit unsern Windlichtern von Seelen mit den Larven Unsterblicher über die Gräber hinüber. – Sie löschen vielleicht einmal aus. 24
     
    Hölderlin sucht mit seiner Dichtung immer das Allgemeine in Situationen, Vorgängen und Empfindungen, die Menschen zu jeder Zeit, an jedem Ort zuteil werden könnten. Er will nicht Erlebtes beschreiben, nicht Stimmungen mitteilen – Ideen sollen Hölderlins Dichtungen ausdrükken. Konkrete Schilderungen des Sterbens sucht man deshalb bei Hölderlin vergeblich, die Furcht vor dem Tod wird niemals psychologisch ausschraffiert. Das Drama, in dem er sich explizit mit dem Sterben auseinandersetzt, Der Tod des Empedokles , ist ja noch einmal viel mehr ein Geflecht aus Gedanken, Erkenntnisstrukturen und philosophischen Prinzipien als der Hyperion . Von Fassung zu Fassung hat Hölderlin die Aspekte getilgt, die dramatische Bewegung erzeugen können, gesellschaftlicher Konflikt, persönliche Leidenschaft, Streit zwischen Protagonisten, Entwicklung der Charaktere. Immer weiter hat er die »Verläugnung des Accidentellen« 25 getrieben, die er sich vornahm. So ist auch das Thema des Empedokles zwar der Tod, aber nicht als Ende, sondern als Auflösung begriffen, als Einswerden, nachdem die ursprüngliche Identität mit der Natur zerbrach, die Hölderlin wie vor ihm den Mystikern eine Chiffre für Gott ist.
     
    Sterben? nur ins Dunkel ists
    Ein Schritt, und sehen möchtst du doch, mein Auge!
    Du hast mir ausgedient, dienstfertiges!
    Es muß die Nacht itzt eine Weile mir
    Das Haupt umschatten. Aber freudig quillt
    Aus muthger Brust die Flamme. Schauderndes
    Verlangen! Was? am Tod entzündet mir
    Das Leben sich zuletzt? und reichest du
    Den Schreckensbecher, mir, den gährenden,
    Natur! damit dein Sänger noch aus ihm
    Die letzte der Begeisterungen trinke!
    Zufrieden bin ichs, suche nun nichts mehr
    Denn meine Opferstätte. Wohl ist mir.
    O Iris Bogen über stürzenden
    Gewässern, wenn die Wog in Silberwolken
    Auffliegt, wie du bist, so ist meine Freude. 26
     
    Ich hingegen habe den Eindruck, daß man, um die Erschütterung zu spüren, die das Sterben für die Lebenden mit sich bringt, konkret werden muß bis hin zum Namen und allen Daten, um die Wendung Ingeborg Bachmanns aus der allerersten Frankfurter Poetikvorlesung zu übernehmen, 27 bis hin zu den unscheinbarsten Beobachtungen und in der Physiognomie bis hin zum Photographischen. Als Idee birgt der Tod des Empedokles eine tiefe Einsicht in die Natur des Lebens und Vergehens, und ich werde darauf, so Gott will, in der letzten Vorlesung zurückkommen und Hölderlin dann hoffentlich wieder so gerecht werden, wie ich es nur vermag. Doch wirklich mit der Diagnose konfrontiert, an Krebs erkrankt zu sein, würde ich eher mit der Priesterin Panthea rufen:
     
    So kann sein Untergang der meinige
    Nicht sein. 28
     
    Der Philosoph Ernst Tugendhat, dem meine Vorlesungen eine ganze Reihe von Überlegungen verdanken, 29 wies darauf hin, daß der Tod als allgemeine Einsicht allen Schrekken verliert. Als schrecklich erleben wir nicht das Wissen, irgendwann in nichts überzugehen, sondern die Mitteilung des Arztes an uns oder unsere Nächsten, daß der Tod und die damit einhergehenden Qualen kurz bevorstehen . Daß alle Menschen sterben, geht mich nichts an. Daß auch meine Nächsten und ich irgendwann sterben werden, damit kann ich leben. Zum Skandal wird der Tod, der eigene und der unsrer Nächsten, nur im Präsens.
     
    Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. 30
     
    Präzise sind hier die beiden Pole in Jean Pauls Werk und vielleicht auch Hölderlins oder sogar aller Dichtung benannt, die als romantisch im weit gefaßten Sinne der Vorschule gelten könnte: Weist der Geist, der in sich und seine Nacht stieg, auf die Selbstvergegenwärtigung hin, die Jean Paul als so einschneidend erfuhr – »Ich bin ein Ich« –, wird mit der »Brandstätte der

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