Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
auf andere Weise als in den bisherigen Vorlesungen, zurück ins Konjunktiv wechsle wie in Hagiographien oder eine Verfremdung verwende wie vor dem epischen Theater bereits jahrhundertlang im Passionsspiel, in denen die Darsteller selbst dann ein Textblatt in der Hand trugen, wenn sie den Text auswendig beherrschten – vor dem Konjunktiv oder der Verfremdung also, die ein Signal sind, daß es auf das Ich ankommt, haben jene Hörerinnen und Hörer, die nicht über die reguläre Zeit hinaus bleiben können oder möchten, auch heute wieder Gelegenheit, jetzt den Hörsaal ohne Sorge zu verlassen, Sie könnten jemanden stören. Allerdings kann ich mir diesmal keine ausgedehnte Abschweifung erlauben, wie aus der Abschweifung selbst hervorgehen wird. Aber auch nur ganz wenige Extrazeilen zu der mir wieder sehr dringlichen Frage, warum gegen Ende der letzten Vorlesung, Sie erinnern sich, plötzlich das Licht erlosch, sollten genügen, damit Sie in Ruhe aufstehen und sich in aller Form von Ihrem Sitznachbar verabschieden können, falls auch diesen Dienstag noch jemand bleibt.
[Martin Rentzsch:] Wenige Extrazeilen über das Licht!
Die Veranstalter, die mich bereits mit dem Hinweis auf das Pult Theodor W. Adornos in die Irre führten, behaupten, daß das Licht erloschen sei, weil Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, dem Schlußviertel meiner letzten Vorlesung zu aufmerksam gefolgt seien. Ich scherze nicht und würde mich schon gar nicht trauen, eine so abstruse Begründung zu erfinden: Die Veranstalter, die auf eine Rücksprache mit dem Saaltechniker verweisen, behaupten, daß dieser hochmoderne Hörsaal HZ2, dessen technologische Allmacht bereits meinen Vorgänger Durs Grünbein mit so vielen Zufällen versorgte, wie es sich ein Poetologe nur wünschen kann, mit einem Bewegungsmelder ausgestattet sei, der das Licht automatisch abschalte, sobald er fünfzehn Minuten lang keine Bewegung registriere. Das klingt so unwahrscheinlich, daß ich mit Jean Paul nur darauf verweisen kann, daß mein Werk kein Roman ist, weil die Kunstrichter eine solche Fügung – nachdem ich Sie ausdrücklich um Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gebeten hatte, schaltete sich das Licht aus, weil Sie zu aufmerksam waren – eine solche Fügung nimmermehr in meine Poetikvorlesung ließen. Ich selbst glaube weder an den Bewegungsmelder noch die Fügung des Allmächtigen, sondern vermute, daß der Saaltechniker schlicht und ergreifend auf den Lichtschalter gedrückt hat, weil er um halb acht endlich Feierabend haben wollte: Schlafen, wenn man müde ist, essen, wenn man hungert. Um weitere Verwicklungen abzuwenden, sind die Extrazeilen heute extrakurz geraten und verspreche ich, daß ich heute vor halb acht zum Ende kommen werde – so Gott will.
[Martin Rentzsch:] Ende der wenigen Extrazeilen über das Licht!
Obwohl der folgende Bericht zum Roman gehört, den ich schreibe, würde ich ihn bei einer Lesung nicht vortragen wollen, weil er anders als jede Form der Literatur, entschiedener auch als eine Reportage oder Dokumentation für nichts steht als sich selbst. Das Er, um das es gehen wird, ist nur er, und ich bin darin nur ich. Nichts an den beiden ist allgemein, nichts übertragbar. Anders als bei gewöhnlichen Lesungen genieße ich dank der Unterstützung durch das Schauspiel Frankfurt das Privileg, die Poetikvorlesung gemeinsam mit zwei so wunderbaren Schauspielern wie Martin Rentzsch und Isaak Dentler zu bestreiten. Indem ein anderer Ich ist als ich, mag das Konjunktiv wie in Hagiographien gewahrt sein, die Verfremdung wie in den Passionsspielen oder die Rahmung wie in dem Roman, den ich schreibe.
Mit Namen und allen seinen Daten: Der Soziologe Karl Otto Hondrich wurde am 1. September 1937 in Andernach am Rhein geboren und starb am 16.Januar 2007 in Frankfurt am Main. Bis hin zum Photographischen in der Physiognomie und noch so unscheinbaren Beobachtungen:
[Isaak Dentler:] Wahrscheinlich war ich der einzige unter den Trauergästen, der ihn nie anders gesehen hatte als mit Glatze und nur einem Bein. Auf der Suche nach Photos im Internet verblüfften mich die blonden, vor Jahren sogar langen Haare, die jugendliche Frisur. Auf einem Bild sieht er so sportlich und verwegen wie ein amerikanischer Filmschauspieler aus, der auch den Tarzan spielen könnte. Als er gestorben war, las ich alle verfügbaren Nachrufe und dachte: Sie meinen einen anderen Menschen. Karl Otto Hondrich, wie ich ihn kannte, ist ein anderer Mensch. Ich
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