Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
klar war, daß wir ohne die Krankheit nicht zusammen Tee getrunken hätten.
Hondrich gab eine knappe, präzise Darstellung. Die Hoffnung beschränkte sich darauf, noch nicht jetzt zu sterben. Wir sprachen über die Schmerzen, über Medikamente, die bevorstehende, nächste Chemotherapie. Es war exakt der gleiche Ton, die gleiche Art, Dinge zu beurteilen, sie also nicht zu beurteilen, sondern eher die Beobachtungen und Erfahrungen, Aussichten und Vermutungen zusammenzustellen. Die Nüchternheit, die seiner Weltbetrachtung zugrunde lag und sich mir später in den meisten Texten bestätigte, schien er streng beibehalten zu wollen, wenn er sich selbst zum Gegenstand nahm. Es war keine distanzierte, gefühllose Nüchternheit. Eher wirkte die Weigerung, sich Illusionen zu machen, wie eine Voraussetzung, die Dinge überhaupt erst lieben und erfahren zu können. Was die Krankheit betraf, so war alle Verzweiflung in der Weigerung zusammengefaßt, die Verzweiflung auch nur anzudeuten. Ich glaube, das exakt war die Stelle, an der wir uns tiefer berührten, als es gewöhnlich zwischen einem älteren und jüngeren Kollegen geschieht, die sich seit einer halben Stunde kennen: Ich nahm das Selbstverständliche der Verzweiflung wahr, ohne daß er sie erwähnte, und er nahm wahr, daß ich die Verzweiflung wahrnahm, ohne daß ich es erwähnte. Ein Einverständnis war darin über die Welt. Es war ein Einverständnis, daß sie Spaß macht und groß ist, aber wir am Ende alle zermahlt werden und er gerade an der Reihe ist. Wie könnte ich ihn trösten? Was sollte er ein Aufheben darum machen? Gehen Sie ruhig, ich komme nach.
Bei meinem zweiten Besuch im Sommer 2006, als ich an der Universität, seiner Universität einen Vortrag hielt, berichtete ich ihm von meiner Überraschung, daß ein Soziologe in seinen Büchern so persönlich sein konnte wie er. Ich meinte seinen Essay über die Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft , den er mir im Februar mitgegeben hatte, ein abweisend ernst wirkendes grünes Bändchen in der edition suhrkamp . In der Widmung war er noch ganz der seriöse deutsche Gelehrte, der in den respektvollen Dialog mit einem Muslim und Orientalisten tritt: »Für Navid Kermani mit Dank + Wünschen für weitere Verknüpfungen der großen Religionen.« Aber das Büchlein selbst hat einen ganz anderen Ton. Er erzählt von seinen eigenen Beziehungen, seinen Irrtümern, seiner Scheidung. – Von solcher Soziologie würde ich gern mehr lesen, sagte ich. Hondrich schmunzelte.
Abgesehen von den Fallbeispielen aus seinem eigenen Alltag, seinen Ehen, verblüffte mich, bis zu welchem Grad er sich als ein persönliches Gegenüber mit dem Autor deckte: die gleiche Art des Abwägens, des genauen Sprechens, des Sowohl-als-auch, der Einsicht, daß das Notwendige nicht richtig sein muß. Die früher übliche Trennung der Ehe als Institution vom Motiv der romantischen Liebe ist klüger und lebensnäher, als es uns heute scheint – nur leben wir eben heute und können die Trennung nicht wiederherstellen. Noch in seinen Thesen las ich das Fragezeichen heraus. »Dem Illusionismus der großen Einseitigkeiten« wollte er entkommen, und dann der Satz, der das Paradox seiner emphatischen und also niemals zynischen Skepsis zusammenfaßt: »Nicht Verheißungen, sondern Ernüchterungen produziere die Soziologie.« Allerdings ist das noch nicht der Schluß. Die Nüchternheit, die er einfordert, ist selbst das nächste Problem. Man kann nicht nur mit Fragezeichen leben. Deshalb geht die Geschichte immer weiter: »Ich erinnere mich an einen Spaziergang im winterlichen Kottenforst, bei dem ich meiner ersten Frau, vor der Ehe, die Ehe schmackhaft zu machen versuchte, indem ich für radikale Nüchternheit von Anfang an plädierte, um uns vor späteren Enttäuschungen zu schützen. Von der Enttäuschung durch dieses Gespräch hat sich unsere Ehe womöglich nie erholt.« The same things that make you live will kill you auf die Soziologie übertragen, das ist Hondrich.
Infam erschien mir der Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , die Hondrich als Reaktionär vereinnahmte. Allein schon, daß er in Paradoxien dachte, erhob ihn über die Kulturkämpfer, die sich auf ihn beriefen. Er war viel zu vorsichtig, neugierig und unvoreingenommen, viel zu offen dafür, Meinungen zu ändern, um sie als Parolen zu rufen. Ich habe inzwischen die Aufsätze gelesen, die ihm den Ruf eines Konservativen eingebrachten, der die Glaubenssätze der Linken und
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