Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
nahegelegenen Klosters ziehen, wenn ein Mensch im Sterben liegt, damit die Mitmenschen für ihn beten, wie einmal auch das Martinshorn nicht nur eine Funktion für den Straßenverkehr gehabt haben mag. Jean Paul unterbricht den Roman, den er schreibt, um innerhalb des Romans, den er schreibt, des scheidenden Unbekannten zu gedenken, wie Navid Kermani am 15. September 2008 den Roman, den ich schreibe, um 2:57 Uhr unterbricht, um dem Absender der Rundmail, dessen Namen er immer noch nicht einordnen kann, auf freilich ganzen drei Zeilen einer E-Mail alles Gute für seine Operation zu wünschen.
Wenns auf mich ankäme, scheidender Unbekannter, ich würde die Totenglocke halten und sprachlos machen, damit jetzt in deinen verfinsterten Totenkampfplatz kein Nachhall der entfallnen Erde hineintöte, der dir (weil das Ohr alle Sinne überlebt) so grausam die Minute ansagt, wo du für uns verloren bist, wie sich aufsteigende Luftschiffer durch einen Kanonenschuß den Augenblick melden lassen, wo sie vor den Zuschauern verschwinden. 20
In dem Roman, den ich schreibe, weiß Navid Kermani, als er im Sommersemester 2010 zum Poetologen wird, immer noch nicht, ob der Absender der Rundmail die Operation überlebt hat oder nicht. Warum, frage ich mich, hat Navid Kermani nie nachgefragt? Gewiß fürchtete er, daß seine Mail nicht mehr zustellbar wäre. Aber vielleicht fürchtete er noch mehr, später einen weiteren Menschen in sein Totenbuch aufnehmen zu müssen, falls er eine Antwort erhalten und sich daraus eine Bekanntschaft entwickelt hätte. Auch der Romanschreiber, der Jean Paul heißt, räumt ein, daß er die Glocke um seiner selbst willen halten und sprachlos machen will, weil er sich die Szene vorstellt, als wirke er selbst mit.
Das Schicksal zieht unser dünnes Gewebe als einen einzigen Faden in seines und kettet unsre kleinen Herzen und unsere nassen Augen als bloße Farbenpunkte in die großen Figuren des Vorhangs, der nicht vor uns herniederhängt, sondern der aus uns gemacht ist. 21
Worin Jean Paul mir in dem Roman, den ich schreibe, ein Vorbild ist, von dem ich die ersten 476 Seiten der ersten Fassung nichts ahnte: ihm wird die erzählte Zeit tatsächlich zur Mimesis der realen. In Romanen weiß der Romanschreiber immer mehr als der Leser. Er kennt das Ende schon, wenigstens prinzipiell. Vielleicht hat er sich noch kein Ende überlegt, aber er allein übersieht die Möglichkeiten, die eine nächste Seite bietet. Anders als im Leben sind sie nicht unendlich. Jean Paul gelingt es, den Vorteil auszugleichen, den die Wirklichkeit immer vor dem Roman haben wird, und die Unendlichkeit nachzuahmen, weil in seinen Büchern alles möglich ist, er aber keine der künftigen Möglichkeiten voraussagen kann. Er selbst freut sich in der Unsichtbaren Loge ,
daß ich jetzt mit meiner biographischen Feder nachgekommen bin und niemals mehr weiß, als ich eben berichte: anstatt daß ich bisher immer mehr wußte und mir den biographischen Genuß der freudigsten Szenen durch die Kenntnis der traurigen Zukunft versalzte. So aber könnt’ in der nächsten Viertelstunde uns alle das Weltmeer ersäufen: in der jetzigen lächelten wir in dasselbe hinein. 22
Im Hesperus bekommt der Romanschreiber, den Jean Paul diesmal Jean Paul nennt, die einzelnen Kapitel in regelmäßigen Abständen durch einen Hund geliefert: Er kann nur vermuten, was die nächste Post bringt, und gibt zum Ende mancher Kapitel selbst Tips ab, wie der Roman weitergeht, den er schreibt. Nicht weil er mehr, sondern weil er genauso wenig weiß wie der Leser, ist ausgerechnet Jean Paul, der Leben auf Alltag reduziert, was andere Dichter seiner und späterer Epochen nur behaupten: ein Gott.
Ob es gleich schon eilf Uhr nachts ist: so muß ich dem Leser doch etwas Melancholisch-Schönes melden, das eben vorüberzog
heißt es einmal in der Unsichtbaren Loge , und dann folgt ein Einschub, der mit dem Buch einmal mehr nichts zu tun hat, aber dann doch, weil den Romanschreiber plötzlich eine so traurige Anwandlung überkommt, daß er für sich und die Leser nichts Nötigeres sieht,
als jetzt einen neuen Freuden-Sektor anzuheben, damit wir unser altes Leben fortsetzen. 23
Was dann tatsächlich folgt, ist ein abruptes Ende, dem das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal nachgestellt ist, dramaturgisch gerechtfertigt nur durch die fadenscheinige Behauptung, gerade jetzt dringend den Vater einer Nebenfigur vorstellen
Weitere Kostenlose Bücher