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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zu verschwinden. Mit letzter Kraft stellte Hondrich noch das Buch fertig, das drei Monate nach seinem Tod erschien, und gab auf, ohne zu klagen, ohne zu trösten, weitgehend stumm, mit letzten Anweisungen für die eigene Trauerfeier, die nicht pompös, aber auch nicht gewollt bescheiden ausfallen sollte, schließlich hätte die Askese nicht ihn, sondern die Gäste betroffen. Als Leichenschmaus wählte er Suppe, genau richtig nach einem Begräbnis im Winter. Tatsächlich war es eisig, der kälteste Tag in einem bis dahin allzu milden Januar, als wir Karl Otto Hondrich das letzte Geleit gaben.
     
    Ich danke Dörthe Kaiser, daß sie mir die Erlaubnis gab, Karl Otto Hondrichs zu gedenken, möge seine Seele froh sein. Ich danke Martin Rentzsch und Isaak Dentler vom Schauspiel Frankfurt, daß sie wieder so berückend Jean Paul, Hölderlin und zum Schluß auch meinen eigenen Text gelesen haben. Und ich danke Ihnen, meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer, für Ihre Aufmerksamkeit und würde mich freuen, Sie am kommenden Dienstag wiederzusehen, wenn ich, so Gott will, über Gott sprechen werde in dem Roman, den ich schreibe.

5. Vorlesung (8. Juni 2010)

 
     
    Meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer,
     
    am Ende der letzten Vorlesung kündigte ich an, heute über den Zufall zu sprechen in dem Roman, den ich schreibe. In meinem Manuskript stand etwas anderes. Im Manuskript der vorigen Vorlesung stand im letzten Satz, daß ich am heutigen Dienstag, so Gott will, über Gott sprechen würde, ja, über Gott, wie es folgerichtig gewesen wäre, nachdem ich den Satz der Mystiker in meine Poetik einzuführen gewagt hatte: »Ich bin Gott«. In der dritten Vorlesung betrachtete ich zunächst das erste Wort: das Ich , das nicht nur in dem Roman, den ich schreibe, sondern in so vielen anderen Romanen unserer Jahre vom Subjekt zum Objekt wird, und setzte das Hilfsverb ins Präteritum, indem ich von einer Geburt erzählte. In der vierten Vorlesung setzte ich das Hilfsverb zwischen Ich und Gott ins Futur und sprach über den Tod, dem der Roman, den ich schreibe, den Titel verdankt, der noch im Vertrag steht: In Frieden . Also wäre in der heutigen fünften und letzten Vorlesung Gott an der Reihe gewesen und eine Erklärung, was die Mystiker, was ich, was sowohl Jean Paul als auch Hölderlin meinen könnten, was überhaupt in dem Satz »Ich bin Gott« auf die Literatur übertragen mit Gott gemeint sein könnte. So stand es als Ankündigung auch im letzten Satz der vorigen Vorlesung, wie Isaak Dentler und Martin Rentzsch bezeugen können, auf deren Pulten das Manuskript ebenfalls lag.
     
    [Isaak Dentler und Martin Rentzsch nicken auffallend kräftig]
     
    Aber als ich dann den letzten Satz vortrug mit der üblich gewordenen Floskel – . . . und würde mich freuen, Sie am kommenden Dienstag wiederzusehen, wenn ich ... –, tauschte ich, ohne es beabsichtigt zu haben, ohne mir überhaupt darüber im klaren zu sein, tauschte meine Zunge das Wort Gott gegen das Wort Zufall aus. Dabei hatte ich bereits eingeräumt, vielleicht erinnern Sie sich, daß der Begriff des Zufalls die Poetik des Romans, den ich schreibe, nur unzureichend bezeichnet und zudem ausgerechnet derjenige dem Zufall mißtraute, der für mein Herzklopfen verantwortlich war, weil ich an seinem Pult zu stehen meinte: Theodor W. Adorno. Einmal abgesehen davon, daß Adorno dem Gottesbegriff auch nicht eben Vertrauen entgegenbrachte, frage ich mich natürlich sofort, frage ich mich sehr viel dringlicher als zuvor nach den Gründen für die technischen Pannen, warum ich anstelle Gott unwillentlich Zufall gesagt hatte? Ich vermute, daß es mit dem Bericht über Karl Otto Hondrich zusammenhing, den Isaak Dentler zuvor verlesen hatte.
    Bevor ich weiterrede, möchte ich eine Sache einmal sagen, weil ich mehrfach darauf angesprochen wurde und sogar Briefe deswegen erhielt: Mir ist vollkommen bewußt, daß mein persönliches Gedenken an Hondrich nicht in eine Poetikvorlesung paßte, in seiner Privatheit manchen sogar peinlich und im Verhältnis zum Rest der Vorlesung jedenfalls zu lang war, beinah zwanzig zusätzliche Minuten. Aber ich möchte einmal loswerden, daß es eine angemessene Weise, mit dem Tod umzugehen, in einer Poetikvorlesung genausowenig wie im Leben, überhaupt nicht gibt. Ich hätte mich geschämt, wenn mir nach der letzten Vorlesung jemand gesagt oder geschrieben hätte, daß sich die Trauer um Hondrich gut in den Ablauf gefügt hätte, mal eben fünf Minuten,

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