Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Multikulturalisten zu widerlegen suchte. Ich bin keineswegs mit allem einverstanden, am wenigstens mit seinen Thesen zum Irakkrieg. Ich verkenne nicht seinen Spaß an der Provokation. Aber Hondrich war zu klug, zu skrupulös und moralisch zu integer, um selbst so fremdenfeindlich zu sein, wie er es den Menschen als natürlichen Instinkt attestierte und durchaus zubilligte. Er glaubte nicht an die Friedfertigkeit der Kulturen; Gewalt einzukalkulieren, machte ihn jedoch nicht zu deren Befürworter. Ich begreife, warum Konservative sich immer öfter auf ihn beriefen, und bestreite, daß er selbst einer war. Er traute nur dem Fortschritt nicht. Die Vergangenheit hielt er deshalb nicht für besser.
Wie gern hätte ich mit ihm auch über das diskutiert, was ich anders sehe. Doch als ich Hondrich zum zweiten Mal besuchte, ahnte ich noch immer nichts von dem Ruf, den er in den Feuilletons hatte. Über die Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft waren wir uns einig. Die dortigen Beobachtungen und Erfahrungen, an die wir im Gespräch anknüpften, trafen bei mir im Sommer 2006 einen Nerv. So erzählte ich freimütiger, als es unserer Bekanntschaft entsprochen hätte, von meinen eigenen Ernüchterungen in der Liebe und warum ich dennoch an der Ehe festhielt. Sein Plädoyer gegen die Selbstverständlichkeit, mit der Eheleute heute auseinandergehen, schien mich zu bestätigen. Hondrich wandte sich gegen den Mythos der einvernehmlichen Trennung, bei der Kinder angeblich weniger Verletzungen davontrügen als durch den Streit der Zusammenlebenden. Damit widersprach er dem Dogma, mit dem mir in den letzten Jahren viele Bekannte in den Ohren lagen: daß es für die Kinder prinzipiell besser sei, sich zu scheiden, als sich immerfort zu streiten. Hondrich hatte etwas gegen das Prinzipielle – was ich rundherum sympathisch fand. Sein Hinweis auf pragmatische Lösungen, auf die vielen möglichen »Vorsichts- und Reparaturmaßnahmen« gegen die Überforderung, die aus der Übertragung der romantischen in die familiäre Liebe beinah notwendig erwachse, sprach mir aus dem Herzen: »Lange Zeit habe ich das Getrenntleben in zwei Häusern nur als ein Scheitern meiner Ehe angesehen«, schrieb er in Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft : »Aber es war auch der Versuch, Scheitern zu begrenzen, ja ihm zuvorzukommen.« Und weiter: »Nicht das Vergehen der romantischen Liebe macht dem Paar den Garaus, sondern nur das Festhalten an der Erwartung, daß sie nie vergehe.«
Ich zitiere all das aus seinem Buch, weil ich so lange Zeit nach unserem zweiten und letzten Gespräch seine Sätze nicht mehr wiedergeben kann. Indes gab es bei ihm, das deutete ich bereits an, kaum einen Unterschied zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort. Was er sagte, war oft bis in die Formulierungen wie aus einem Buch, und was er schrieb, hatte die Schnörkellosigkeit dessen, der ein Gegenüber anspricht. Auch an den sechs Reden, die auf der Trauerfeier gehalten wurden, fiel mir auf, wie sehr sie sich gegenseitig bestätigten. Jedenfalls im Vergleich zu anderen Menschen gab Hondrich das Bild einer weitgehend in sich ruhenden, geschlossenen Persönlichkeit ohne krasse innere Widersprüche ab. Von Nüchternheit, Gelassenheit, Langsamkeit, Genauigkeit, Bedächtigkeit, Gewissenhaftigkeit sprachen alle, die ihn charakterisierten. Ein Redner schilderte darüber hinaus den Womanizer, der sich auf den Photos von früher andeutet. Alle anderen Charakterisierungen fügten sich in das Bild, das auch ich von ihm gewonnen hatte.
Und doch behaupte ich, noch jemand anderen getroffen zu haben. So auffallend Hondrich darum bemüht war, sich vom Tod zu keinem anderen Menschen machen zu lassen – er wußte um die Vergeblichkeit. Illusionslos auch gegenüber sich selbst, wußte er, dessen bin ich mir sicher und das meine ich wahrgenommen zu haben, daß das Bild, das er von sich zeigte, nicht alles war, nicht das ganze Bild. Er war identisch mit sich auch im Bewußtsein, daß niemand identisch ist mit sich, und nüchtern genug, um vorauszusehen, daß die Nüchternheit nicht aufrecht zu erhalten ist. Am Ende wimmerst du. Aller Realismus hilft nicht, die Realität zu ertragen. Aber wenn das so ist, wenn das ohnehin so ist und bei jedem, muß man nicht auf den Marktplatz mit seiner Furcht. Wenigstens nach außen Würde zu bewahren ist der letzte Widerstand gegen einen übermächtigen Gegner: fortzufahren, bis es nicht mehr geht – und dann, so lautlos es einem vergönnt sein mag,
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