Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
ein hübscher Text, die Anekdote mit der Nüchternheit in der Ehe war lustig, das riesige Photo hinter uns auch ein kluger Einfall. Ich hätte mich geschämt. Der Tod fügt sich nicht ein, weder in das Leben noch in den Roman, den ich schreibe, er passiert prinzipiell zum falschen Zeitpunkt, und dann bricht erst einmal alles zusammen. Jeder müßte das selbst erlebt haben, der einmal um einen Liebsten trauerte, was ich in meiner Selberlebensbeschreibung erlebe, daß die Mitmenschen irgendwann, sagen wir im zweiten, dritten Monat zu verstehen geben, es müsse doch auch mal gut sein, und nach spätestens einem Jahr: jetzt reiß dich mal zusammen, das Leben gehe weiter, der Tod gehöre zum Leben und so weiter die ätzenden Argumente alle, mit denen Menschen seit jeher ihre Mitmenschen zusätzlich quälen, deren Leben nicht weitergeht, obwohl sie sich ja bemühen, kein Aufheben zu machen, das Zimmer des Liebsten aufräumen, seine Habseligkeiten ordnen und entsorgen, was unmöglich aufzubewahren ist, das Leben nicht weitergeht, nicht weitergeht, nicht weitergeht oder jedenfalls nie mehr, wie es sollte.
Und deshalb bin ich Ihnen, verehrte Hörerinnen und Hörer – und das meine ich jetzt so ehrlich, wie ich nur sein kann und also gar nicht floskelhaft – deshalb war ich dankbar, weil ich um die Zumutung wußte, daß Sie, soweit ich es hörte und hinter meiner rechten Schulter spürte, denn ich hatte mich vorsichtshalber Isaak Dentler zugewandt, daß Sie das mitgemacht haben. Das ist auch ein Beistand, oft der beste, nichts zu sagen, aber spüren zu lassen, man ist da, und dafür danke ich ausdrücklich auch dem Herrn, der zu meinem Schrecken den Hörsaal durch den Eingang neben unseren Pulten betrat, als ich zum Bericht über Hondrich überleiten wollte, Sie erinnern sich, dieser großgewachsene, kräftige Herr, ich schau einmal in Ihre Reihen, ob er heute da ist, oder vielleicht kommt er ja wieder erst nach sieben Uhr, wie er letzte Woche erst nach sieben Uhr kam, sich erst einmal in aller Ruhe vor den Büchertisch am Eingang stellte, in meinen Büchern blätterte, während ich zum Totengedächtnis überleiten wollte, und dann schlenderte er seelenruhig vor unseren drei Pulten entlang, ich dachte, ich sehe nicht richtig, nickte mir dabei noch zu und fläzte sich lächelnd in die erste Reihe, erste Reihe Mitte genau wie in der zweiten Vorlesung KD Wolff, und bestimmt haben Sie gemerkt, das müssen Sie gemerkt haben, wie ich, so konzentriert ich für meine Verhältnisse das Manuskript vorgetragen hatte, wieder nervös wurde, mich wie in der zweiten Vorlesung zu verhaspeln begann und auf dem Joystick, wie wohl es mir mehrfach erklärt worden war, nicht den richtigen Knopf fand, um das Photo an die Wand zu projizieren, selbst diesem Herrn, den ich am liebsten angebrüllt hätte, er solle wieder verschwinden, weil das keine Unterhaltungssendung sei, war ich dann doch dankbar, weil selbst er, der beim Anblick des Photos noch fröhlich rief: »Ach, der Karl Otto«, weil selbst der großgewachsene, kräftige Herr zwanzig Minuten still hielt, soweit ich es hörte und hinter meinem Rücken spürte.
Bevor ich mit der Antwort fortfahre, warum ich im letzten Satz der vorigen Vorlesung Gott durch den Zufall ersetzte, sage ich Ihnen auch noch, daß ich heute verhältnismäßig oft abschweifen oder mehr oder weniger fast nur abschweifen werde wie Jean Paul in manchen Romanen und deshalb auf die Extrazeilen verzichte, weil mehr oder weniger alles Extra sein wird und Sie heute jederzeit den Hörsaal ohne Sorge verlassen können, jemanden zu stören, zumal ich – auch das sage ich Ihnen lieber gleich – zumal ich in meiner Allmacht als Vortragender noch länger überziehen werde als üblich, und auf die Gefahr hin, daß das Licht wieder um Punkt halb acht verlöscht, so lang reden werde, wie ich will – allerdings höchstens bis fünf nach halb acht, weil dann der Spielplan des Schauspiel Frankfurts meine Selbstherrlichkeit beendigt und Isaak Dentler im Taxi zum Theater rasen muß, wo um acht Uhr seine Vorstellung, so Gott will, beginnt. Falls Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, mir die Freude machen, mir bis ans Ende meiner Herrlichkeit zu folgen, werden Sie noch mit jemandem belohnt, den Sie in diesem hochmodernen Hörsaal HZ2 am allerwenigsten erwarten.
Aber nun endlich zu der Frage nach dem Zufall anstelle Gottes, die im strengen Sinne ja ebenfalls noch nicht zu der heutigen Vorlesung gehört, sondern die Panne der letzten
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