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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Seele froh, innerhalb weniger Wochen der fünfte, wobei ich die Nachricht vom Tod des alten Schreiners in der zweiten Fassung nach vorn verlegte, sonst wären 2009 zu wenige Menschen gestorben, macht doch erst der Tod den Roman lebendig, den ich schreibe. So explizit habe ich es Ihnen noch gar nicht gesagt, daß darin nur die Toten einen Namen haben, die Toten und die Dichter. Daß ich dem Hausmeister keinen Namen gab, war, wenn ich mit mir ins Gericht gehe, vielleicht auch meinem Unwillen geschuldet, zum fünften Mal innerhalb weniger Wochen das Tagwerk zu unterbrechen, das einmal als Abfallerzeugung begonnen hatte und nun bis hin zum Termin, den der Verlag anvisiert, und den Spitzenplatz im Katalog, den ich mir im Vertrag zusichern ließ, auf ein Produkt zielt, für das sich der Verlag im selben Vertrag die Gattung Roman zusichern ließ, um den Vorschuß wieder einzuspielen.
    So häufig habe ich den Hausmeister gesehen, wahrscheinlich häufiger als meine eigene Frau und die Kinder, immer im Hof, auf den ich vom Schreibtisch aus blicke, daß es möglich gewesen wäre, ein paar Spuren zu sichern, wiewohl von unseren Gesprächen über den Kühlschrank oder die anderntags defekte Klospülung, in denen meine obligate Frage nach dem Befinden ihn jedesmal zu verwundern schien, beim besten Willen nichts zurückblieb, eher schon von den Beobachtungen vom Schreibtisch aus, vorbei am Bildschirm des Computers. Einen Menschen mehrmals am Tag zu sehen, erzeugt auch eine Art Nähe, unweigerlich seinen Gang zu verfolgen, wenn er im Hof Ausschau hielt, ob alles seine Ordnung hat, die Mülltonnen an ihren ordnungsgemäßen Platz rollte oder mit den Kunden des türkischen Supermarkts schimpfte, die ihre Autos nie ordentlich parken, und doch auf seine ruppige Weise kollegial, keineswegs mißmutig gegenüber den Türken aus dem Supermarkt, die ihm zuliebe das übergroße Schild anbrachten, daß Parken nur während des Einkaufs und nie länger als dreißig Minuten erlaubt sei. Der Nachfolger des Hausmeisters wird dankbar sein, nicht jedem alles von neuem erklären zu müssen, wie auch ich manchmal nach Lesungen gern auf ein übergroßes Schild verwiese. Ich beruhigte mich damit, daß ich dem Hausmeister nach den Maßstäben meines Totenbuchs, die sich im Laufe des Romans, den ich schreibe, herausgebildet hatten, beim besten Willen nicht nahe genug gekommen war, um Zeugnis ablegen zu können. Wenn Sichtweite genügte, wäre ich nur noch mit dem Tod beschäftigt.
    Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, die zweite Fassung des Romans abzuschließen, den ich schreibe, bevor ich in Frankfurt über meine Poetik lese, doch war der Plan auch wegen der vielen Toten vollkommen aussichtslos geworden und es schon deshalb die reine Idiotie, daß ich mit der Familie, die so selten noch versammelt ist, nicht über Ostern verreisen wollte, weil, ja warum eigentlich?, ach nur weil ich mir einen hübschen Anfangssatz für die erste Vorlesung ausgedacht hatte, der gleichzeitig im Roman geschrieben werden sollte.
     
    [Isaak Dentler:] In dem Roman, den ich schreibe, hält jemand, der oft Enkel, sonst Sohn, Vater, Mann, Liebhaber oder Freund, hin und wieder Romanschreiber, regelmäßig Berichterstatter, dann wieder Orientalist, ein Jahr lang die Nummer zehn und an einigen Stellen Navid Kermani genannt wird, am Dienstag, dem 11.Mai 2010, eine Poetikvorlesung in Frankfurt.
     
    Wie jeder, der »ich« zu sagen lernt, möchte auch ich, daß alles Künftige gerade so sei, wie ich es möchte, und bin vielleicht – wenn sogar die Länge meiner Poetikvorlesung von einem schnöden Spielplan bestimmt wird – bin vielleicht deshalb Romanschreiber geworden, um wenigstens zwischen zwei Buchdeckeln alles bestimmen zu können beziehungsweise auf den 23,5 mal 17,5 mal 1,8 Zentimetern meines Laptops, den ich mir zum vierzigsten Geburtstag gewünscht habe, eigens ein besonders kleines und leichtes Gerät, das in jede Tasche paßt, um meine Allmacht stets mit mir zu tragen. Wie jeder, der »ich« sagt, erfuhr auch ich an der Unbeständigkeit, Unvorhersehbarkeit und Zufälligkeit der Dinge die eigene Ohnmacht, die mich von mir erlösen könnte, achtete ich nur auf sie.
     
    Aber der Mensch – verwöhnt an sein Ich – hebt aus den beiden unermeßlichen Zeiträumen sich das Räumliche seines Lebens heraus und stellt es als eine hohe Insel in das unendliche Zeitmeer und mißt von ihr aus die Unendlichkeit. Jeder glaubt, zugleich mit ihm müsse das All auslaufen, fortlaufen und

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