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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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anlanden; und er sei der Mittelpunkt eines unendlichen Kreises, der lauter Mittelpunkte umgibt. 2
     
    Es ist der Zufall, der dem Ich seinen Hochmut austreibt. Es kann planen, wie er will, Monumente anlegen für alle Ewigkeit, Reichtümer, Raumfahrten oder Romane – nicht einmal mit der Wimper muß Gott zucken, damit alles auf den Haufen geworfen wird, und wer nicht an Gott glaubt, dem mag eine Wimper ins Auge geraten, wie es meinem Vater auf der Fahrt nach Isfahan Anfang der sechziger Jahre in Österreich geschah, so daß sein Auto gegen einen Baum fuhr, und ein paar Tage später schlägt er die Augen im Krankenhaus auf, und zwei seiner drei Söhne sind auf der Intensivstation und seine Frau hätte genauso gut tot sein können, eine Wimper nur, und der jüngste Sohn, der im Sommersemester 2010 die Frankfurter Poetikvorlesung hält, wäre nie geboren.
    Wenn sein Arbeitskollege Mirza Aziz Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der vergessenen Hafenstadt Bandar Lengeh am Persischen Golf nicht die Streichholzschachtel mit dem Schmuck von Madame Carlier wiedergefunden hätte, der Frau des belgischen Zolldirektors, wäre mein Großvater, dem die winzige Schmuckschatulle anvertraut gewesen war, unehrenhaft aus dem Dienst der iranischen Zollbehörde entlassen, vielleicht sogar verhaftet worden und nie und nimmer später Bankdirektor in Isfahan geworden, hätte er seinen Kindern nie und nimmer die Ausbildung ermöglicht, von der noch seine fünfzehn Enkel profitieren, die in alle Welt verstreut sind. In seiner Selberlebensbeschreibung, die niemand drucken wollte, beschreibt Großvater die Suche nach der Streichholzschachtel von Madame Carlier, die er verlegt hatte, als den subjektiv dramatischsten Augenblick seines gesamten Lebens. Heiß und kalt sei ihm gewesen, da er sich die Schande ausgemalt habe, die der verlorene Schmuck von Madame Carlier ihm bringen würde, die Schande, die er den Vorgesetzten und Eltern bereiten würde, seinem Vater vor allen, so speiübel vor Angst, Scham und Verzweiflung, daß er sich im Zollamt von Bandar Lengeh vor allen durchreisenden Nomaden übergeben mußte. »Was machen Menschen in so einer Situation, die nicht an Gott glauben?« fragt er in seiner Selberlebensbeschreibung, die den Roman im Roman bildet, den ich schreibe: »Zu wem nehmen sie Zuflucht?« Deshalb heben mystische Reisen stets mit der größten Verzweiflung an, einer existentiellen Krise und der größten Unsicherheit, weil dem Ich erst seine Grenzen aufgezeigt werden müssen, bevor es von sich läßt. Die absolute Grenze und damit die umfassendste Erfahrung der Kontingenz bildet zweifellos der Tod, der dem Roman, den ich schreibe, deshalb die unvorhersehbare Struktur gibt, der Tod, insofern die Ohnmacht nicht nur das Wie betrifft, sondern das Sein selbst, wie Jean Paul in seiner Selberlebensbeschreibung betont:
     
    Der Tod ist der eigentliche Maschinenmeister der Erde. Er nimmt einen Menschen wie eine Ziffer aus der Zahlenreihe vorn, mitten, oder hinten heraus und siehe, die ganze Reihe rückt in eine andere Geltung zusammen. 3
     
    Aber es muß nicht der Tod sein, der einem alle Absichten aus der Hand schlägt wie ein volles Tablett, und nicht einmal ein Spielplan. Eine Verspätung von anderthalb Stunden genügt. Sie genügt, wenn die Versöhnung mit der Frau erst einen halben Tag zurückliegt, sie genügt, um vom Flughafen in die Wohnung zu rasen, Kulturbeutel, T-Shirts, Sandalen, Badehose in den Koffer zu werfen und mit dem gebrochenen Bein ins Büro zu humpeln, wo ich auf die Schnelle zum letzten Band der Dünndruckausgabe von Jean Paul griff, den ich gar nicht mehr zu Ende lesen mochte, weil die späten Romane mich bis dahin enttäuscht hatten wie von den Germanisten vorausgesagt, bevor ich ein Taxi zurück zum Flughafen nahm, wo die Frau trotz Ferienbeginn einen Platz im ausgebuchten Flugzeug sichern konnte, weil ein anderer Passagier aus Zufällen, die einen eigenen Roman ergäben, zu spät am Gate erschien. Als ich packte, hatte ich noch keine Ahnung, ob in der Maschine ein Platz frei würde, und war gerade in meiner Willenlosigkeit so fröhlich. Was steht denn überhaupt an auf diesem Spielplan, Herr Dentler?
     
    [Isaak Dentler:] Steilwand von Simon Stephan.
     
    Und müssen Sie wirklich schon um acht da sein? Ich meine, vielleicht ist Ihr Auftritt etwas später, und wir . . .
     
    [Isaak Dentler:] Es ist ein Einpersonenstück.
     
    Ja, gut, das kriege ich schon hin [blättert das Manuskript

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