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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Vorlesung betrifft, wobei ich in der letzten Vorlesung übrigens eine technische Panne schmerzlich vermißte, wenn ich das einmal sagen darf in der Hoffnung, daß sich die Veranstalter oder der Saaltechniker heute noch etwas einfallen lassen, es ist ja noch etwas Zeit, um die technologische Allmacht des Hörsaals zu demonstrieren, der bereits meinen Vorgänger Durs Grünbein mit so vielen Zufällen versorgte, wie es sich ein Poetologe nur wünschen kann. Es hing also mit dem Tod zusammen, dem Tod von Karl Otto Hondrich, der auf Erden so sehr fehlt, daß ich nach seinem Gedenken offenbar nicht von Gott sprechen wollte, dank dem alles Zufällige auf Erden zu einer Fügung wird, denn da war keine Fügung oder weigerte ich mich in dem Augenblick unbewußt, in seinem Tod eine Fügung zu sehen, wie es jeder unweigerlich tut, der Gott ins Spiel bringt und zumal in eine Poetik, also ließ ich Gott draußen, wenn es nicht Gott selbst war, der meine Zunge führte, wenn Gott selbst nicht lieber aus dem Spiel sein wollte bei so was.
    Nun hat nicht nur Hölderlin im Tod des Empedokles , sondern auch Jean Paul, der sich wie kein anderer deutscher Dichter gegen die Vernichtung wehrte – das Lebendige darf nicht dem Unlebendigen gleich werden – und die Poesie im Sinne einer metaphysischen Revolte als Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit definierte – hat ausgerechnet Jean Paul in dem letzten Fragment, das er vor seinem Tod verfaßte, in dem Roman Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele sich dann doch dem Tod als einer Fügung ergeben und Frieden gefunden als Dichter. Und Fügung hin oder her, habe ich es dem gewöhnlichsten aller Zufälle zu verdanken, daß ich diesen letzten Roman, auf den meine gesamte Poetikvorlesung zuläuft, wie Sie sehen werden, daß ich überhaupt den letzten Band meiner Dünndruckausgabe mitsamt der Vorschule der Ästhetik rechtzeitig vor der Poetikvorlesung las. Ich verdanke die Lektüre nämlich der Verspätung eines Flugzeugs.
    Seit meine Frau – und da ich nun schon in der ersten Person angefangen habe, rede ich vom Romanschreiber heute einmal als mir selbst, wenn ich nicht jedesmal auch vom Enkel, Sohn, Mann, Liebhaber, Freund, Berichterstatter, Orientalisten, der Nummer zehn, Navid Kermani oder dem Poetologen sprechen möchte – seit meine Frau in einer anderen Stadt arbeitet, verbringe ich buchstäblich jeden freien Augenblick und vor allem die Wochenenden am Schreibtisch, um trotz der vielen Stunden, die mir als alleinerziehender Vater während der Woche fehlen, mit der zweiten Fassung des Romans voranzukommen, den ich schreibe. Konnte ich für die erste Fassung die Struktur eines Lebens, das aus den Fugen geraten war, in den Roman übertragen, benötige ich für die Überarbeitung nichts dringender als Konzentration, wie schon Jean Paul wußte:
     
    Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee. 1
     
    Es war, bevor die Poetikvorlesung begann, die mich jeden Dienstag in eine andere Stadt und vor so viele Menschen katapultiert, ein ruhiges, fast mönchisches Leben, fast zölibatär obendrein, die Wege zwischen Schule und Krabbelgruppe, Wohnung und Büro, Einkaufen und Großeltern zwar zahlreich, aber kurz und immer dieselben, Aufregungen allein diejenigen der Kinder, am größten eine Grippe der Frühgeborenen mit Arztbesuch, kein Kino, kein Konzert, keine Kneipe, keine Freunde, leider keine Reisen, dafür keinen Verkaufstand mehr auf dem Meinungsbasar, der Radius dieses Frühjahr schon wegen eines gebrochenen Beins – ach, den Fußballer vergaß ich zu erwähnen – nicht größer als ein Klostergarten. Die nicht von mir festgelegten Termine, die meine Tage zerstückelten, waren ohne Arg, das war das Schöne, das ich täglich und tief empfand, keine Besuchszeiten und Angehörigenseminare mehr, keine bedeutenden Konferenzen und aufgeregten Debatten, dafür Hockeyturniere der Älteren oder, Gott sei gepriesen, bereits der dritte Geburtstag der Frühgeborenen, und alle waren da. Dazwischen kamen nur die Toten, im Februar erst wieder eine Mitteilung des Vermieters im Briefkasten meines Büros, der bedauerte, daß der Hausmeister seine Aufgabe erfüllt und sich um die Häuser verdient gemacht habe, kein persönliches Wort, vielleicht aus der Einsicht, daß das Persönlichste in einem Brief an alle zur Floskel geriete, vielleicht weil der Vermieter über den Hausmeister auch nicht mehr Persönliches zu sagen hatte als wir. Schon wieder jemand tot, dachte ich, möge seine

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