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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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Erkennungsscene zwischen Bruder und Schwester ist vielleicht nicht so lebhaft, aber gewiß poetischer als jede ähnliche. Die Schicksale der Familie Agamemnons sind auf eine bewundernswürdige Weise aufgestellt, und man glaubt, eine Reihe von Gemälden vor Augen zu haben, womit Geschichte und Fabel das Alterthum bereicherten. Ein neues Interesse entspringt aus der schönen Sprache und den hohen Gesinnungen, die im Stücke walten. Eine so erhabene Poesie wiegt die Seele in eine edle Anschauung, und macht ihr die Bewegung und die Abwechselungen des dramatischen Lebens beinahe entbehrlich.
    Unter den vielen schönen, merkwürdigen Stellen, die man in der Iphigenia antrift, befindet sich eine, die einzige in ihrer Art. In ihrem Schmerze ruft Iphigenia einen alten Gesang in ihr Gedächtniß zurück, der in ihrer Familie bekannt war, und ihr von der Amme schon bei der Wiege vorgesungen worden; es ist das Lied, das die Parzen dem Tantalus in dem Hades singen. Sie erinnern ihn an die vergangenen Zeiten, als ihm die Ehre zu Theil ward, an der goldnen Tafel der Götter als Gast zu sitzen. Sie malen den entsetzlichen Augenblick, wo er vom Throne gestürzt, die ewige Strafe, die ihm auferlegt wurde, die Ruhe der unsterblichen Gebieter der Welt, deren Gemüth die Qualen der Hölle nicht erreichen; die drohenden Parzen verkünden Tantalus Nachkommen, daß sich die Götter von ihnen abwenden werden, weil ihre Züge den Zügen ihres Ahnherrn gleichen. Der alte Tantalus hört den Gesang in der ewigen Nacht, denkt an seine Kinder, und senkt sein strafbares Haupt. Die treffendsten Bilder, der mit jedem Gefühl zusammenstimmende Rythmus, alles giebt dieser Dichtung die Farbe eines Nationalgesangs. Darin besteht die größte Kraftäußerung des Talents, daß man sich mit dem Alterthum so vertraut machen könne, daß man zugleich alles auffange und festhalte, was bei den Griechen volksthümlich war, und nach einem so großen Zwischenraum von Jahrhunderten, einen so feierlichen Eindruck hervorbringt.
    Die Bewunderung, die man der Iphigenia von Tauris unmöglich versagen kann, steht keinesweges im Widerspruch mit dem, was ich von dem lebhaftern Interesse, von der innigeren Rührung gesagt habe, die man bei neuern Stoffen und Darstellungen empfinden kann. Die Sitten und Religionen, deren Spur Jahrhunderte verwischt haben, stellen den Menschen als ein Ideal auf, welches die Erde, auf welcher es sich bewegt, kaum berührt; aber in Zeitabschnitten und historischen Begebenheiten, deren Einfluß sich bis zu uns erstreckt, fühlen wir die Wärme unserer eigenen Existenz, und verlangen eben die Affecte von außen, die wir in uns empfinden.
    Es scheint mir aus diesem Grunde, als hätte Göthe in seinem Torquato Tasso , nicht eben die Einfalt der Handlung, nicht eben die Ruhe der Rede annehmen sollen, die sich für seine Iphigenia schickte. In einem so modernen Stoff könnte diese Einfalt und Ruhe leicht für Kälte und Mangel an Natürlichkeit gelten; denn daß der persönliche Charakter des Tasso, und das Leben am Hofe zu Ferrara nicht in jeder Hinsicht zur neuen Geschichte gehören, wird man mir nicht einwenden wollen.
    Göthe wollte in seinem Tasso den zwischen dem poetischen und dem geselligen Leben bestehenden Gegensatz malen; er wollte einen Poeten und einen Weltmann gegeneinander aufstellen. Er hat den Nachtheil dargethan, der aus dem Schutz eines Fürsten für die zarte Einbildungskraft eines Dichters entsteht, selbst wenn dieser Fürst sich überzeugt hält, er liebe Wissenschaft und Kunst, oder wenigstens seinen Stolz darin setzt, für ihren Liebhaber und Bewunderer zu gelten. Die freifliegende, von der Poesie ausgebildete Natur, im Gegensatz mit der von der Politik abgekühlten und gezügelten, ist eine Mutteridee, aus welcher tausend Töchterideen entspringen.
    Ein schöner Geist, ein Genie, an den Hof berufen, muß sich anfangs glücklich schätzen und an seinen Platz dünken; muß aber, mit der Länge der Zeit, nothwendig manche der Widerwärtigkeiten empfinden, die Tasso's Leben so ungemein verbitterten. Ein Talent, welches sich durch das Hofleben bändigen und einschnüren ließe, würde aufhören, Talent zu seyn. Gleichwohl ist es äußerst selten, daß Fürsten die Rechte der Phantasie anerkennen, und sich zugleich darauf verstehen, diese Geistesgabe zu achten und schonend mit ihr umzugehen. Man konnte keinen glücklichern Gegenstand wählen als Torquato Tasso in Ferrara, um zugleich die verschiedenen Charaktere eines Dichters,

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