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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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sagt Luther, „ist wie ein betrunkener Bauer zu Pferde; hebt man ihn von der einen Seite hinauf, so fällt er von der anderen wieder herab.“ Auch hat der Mensch unablässig zwischen seinen beiden Naturen geschwankt; bald rissen ihn seine Gedanken von den Sensationen los, bald verschlangen seine Sensationen die Gedanken, und abwechselnd wollte er Alles auf die einen oder die anderen beziehen. Indessen scheint es mir, als sey der Augenblick der stätigen Lehre gekommen. Die Metaphysik muß eine Umwälzung leiden, gleich derjenigen, welche Copernikus in dem Welt-System zu Stande gebracht hat. Sie muß unser Gemüth ins Centrum setzen und es in allen Dingen der Sonne gleich machen, um welche die äußerlichen Gegenstände ihren Zirkel beschreiben und von welcher sie das Licht borgen.
    Der Stammbaum menschlicher Kenntnisse, an welchem jede Wissenschaft sich auf die oder die Fähigkeit bezieht, ist unstreitig einer von den Ansprüchen, welche Bacon auf die Bewunderung der Nachwelt hat. Was aber seinen Ruhm begründet, ist, daß er zuerst aussprach: „man müsse sich wohl in Acht nehmen, die Wissenschaften auf eine absolute Weise von einander zu trennen, und daß alle sich in der allgemeinen Philosophie vereinigten.“ Er ist also nicht der Urheber jener anatomischen Methode, welche die intellektuellen Kräfte jede insbesondere betrachtet, und die bewundernswürdige Einheit des moralischen Wesens zu verkennen scheint. Empfindsamkeit, Einbildungskraft, Vernunft unterstützen sich unter einander. Jede von diesen Fähigkeiten würde nur eine Krankheit, eine Schwäche an der Stelle einer Stärke seyn, wenn sie nicht durch die Totalität unseres Wesens modifizirt oder ergänzt würde. Auf einer gewissen Höhe erfordern selbst die berechnenden Wissenschaften Einbildungskraft; so wie diese sich wiederum auf die genaue Kenntniß der Natur stützen muß. Von allen Vermögen der Seele scheint die Vernunft die Hülfe der übrigen am leichtesten entbehren zu können; und doch würde man, wenn man von Einbildungskraft und Empfindsamkeit ganz verlassen wäre, aus bloßer Trockenheit so zu sagen vor lauter Vernunft närrisch werden, und sich, wenn man im Leben immer nur Berechnungen und materielle Interessen sähe, über die Charaktere und Zuneigungen der Menschen eben so betrügen, als ein enthusiastisches Wesen, das überall von Uneigennützigkeit und Liebe träumt.
    Man befolgt ein fehlerhaftes Erziehungs-System, wenn man ausschließend die eine oder die andere Eigenschaft des Geistes entwickeln will. Wer sich einer Facultät widmet, ergreift ein intellectuelles Metier. Mit Recht sagt Milton: „eine Erziehung sey nur dann gut, wenn sie zu allen Kriegs- und Friedensämtern tauglich mache.“ Alles, was aus dem Menschen einen Menschen macht, ist wahrer Gegenstand der Unterweisung,
    Weiß man von einer Wissenschaft nur, was ihr eigenthümlich ist, so bringt man in die freien Künste dieselbe Theilung der Arbeit, welche sich nur für die mechanischen Künste paßt. Gelangt man dagegen zu der Höhe, wo jede Wissenschaft in einigen Punkten alle übrigen berührt, dann nähert man sich der Region allgemeiner Ideen, und die Luft, welche von daher weht, belebt alle Gedanken.
    Das Gemüth ist ein Brennpunkt, der in allen Sinnen strahlt, und in diesem Brennpunkt bestehet das Daseyn. Alle Beobachtungen und alle Bestrebungen der Philosophen müssen sich gegen dieses Ich wenden, welches der Mittelpunkt und das Triebwerk unserer Gefühle und unserer Ideen ist. Unstreitig nöthigt uns die Unvollständigkeit unserer Sprache zum Gebrauch von irrigen Ausdrücken; man muß, dem Herkommen nach, wiederholen: der und der hat Vernunft, oder Einbildungskraft, oder Empfindsamkeit u.s.w. Wenn man sich aber durch Ein Wort verstehen wollte, so brauchte man bloß zusagen: „er hat Gemüth, er hat viel Gemüth.“  [Im Original âme. Die Verfasserin bemerkt hiebei in einer Note: Herr Ancillon, von welchem sie in der Folge des Werks mehr sagen werde, bediene sich dieses Ausdrucks in einem Buche, über welches man, nachzudenken, nicht müde werde.]  Denn dies ist der göttliche Hauch, welcher den ganzen Menschen macht.
    Weit sicherer, als die allerspitzfindigste Metaphysik, lehrt die Liebe alles, was mit den Mysterien des Gemüths in Verbindung steht. Man klammert sich nicht an die eine oder die andere Eigenschaft der Person, welche man vorzieht; und alle Madrigale sagen ein sehr philosophisches Wort, indem sie wiederholen, daß man liebt, ohne zu wissen

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