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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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Mensch eine, ihm ausschließend eigene, Moral, oder vielmehr eine Abwesenheit der Moral für seinen Gebrauch hätte; und um das Böse, welches die Sensationen empfehlen können, zu verbieten, würde man keinen besseren Grund aufstellen dürfen, als die öffentliche Macht, die es bestrafen wird. Wenn nun die öffentliche Macht die Ungerechtigkeit beföhle, so würde die Aufgabe gelöset seyn: alle Sensationen würden alle die Ideen erzeugen, welche zu der vollendetsten Verderbniß führten.
    Die Beweise für die Geistigkeit der Seele können nicht in dem Gebiet der Sinne gefunden werden; nur die sichtbare Welt ist diesem Gebiete überlassen. Die unsichtbare kann ihm nicht unterthan seyn; und wie wäre an Immaterialität der Seele zu denken, wenn man nicht die Spontaneität der Ideen zugiebt, wenn der Gedanke und das Gefühl von den Sensationen abhängen? Und wenn, wie niemand leugnet, die meisten Thatsachen, welche von den Sinnen überliefert werden, dem Irrthum unterworfen sind – was ist ein moralisches Wesen, das erst dann wirksam wird, wenn äußere Gegenstände es anregen – Gegenstände sogar, deren Erscheinungen oft falsch sind? 
    Ein französischer Philosoph hat gesagt: „der Gedanke sey nichts weiter, als das materielle Produkt des Gehirns.“ Der Ausdruck ist abstoßend; aber diese bejammernswerthe Definition ist das natürliche Ergebniß einer Metaphyslk, welche den Ursprung aller unserer Ideen in unseren Sensationen findet. Ist dem also, so spottet man mit Recht über das Intellectuelle, so findet man mit Recht alles unbegreiflich, was nicht handgreiflich ist. Ist unsere Seele nur eine zarte Materie, welche durch andere, mehr oder minder grobe, Elemente in Bewegung gesetzt wird, neben welchen sie noch in der unvortheilhaftesten Passivität dasteht: sind unsere Eindrücke und Erinnerungen nur verlängerte Schwingungen eines von dem Zufall gespielten Instruments: dann giebt es nur Fibern in unserem Gehirn, nur physische Kräfte in der Natur, und alles läßt sich nach den Gesetzen erklären, welche jene leiten. Freilich bleiben noch kleine Schwierigkeiten über den Ursprung der Dinge und den Zweck unseres Daseyns übrig; allein man hat die Frage tüchtig vereinfacht, und die Vernunft räth uns, alle die Verlangen, alle die Hoffnungen zu unterdrücken, welche Genie und Liebe und Religion uns zuführen. Denn der Mensch würde alsdann nichts mehr und nichts weniger seyn, als eine Maschine in dem großen Mechanismus des Universums: seine Fähigkeiten, Räderwerk; seine Moral, ein Calcul; der Gegenstand seiner Anbetung, der glückliche Erfolg.
    Indem Locke im Grunde seiner Seele an das Daseyn Gottes glaubte, stützte er, ohne es zu ahnen, seine Ueberzeuguug auf Raisonnements, welche sämmtlich über die Sphäre der Erfahrung hinausgehen. Er behauptet, es gebe ein ewiges Princip, eine ursprüngliche Ursache aller übrigen Ursachen; und so tritt er in die Sphäre des Unendlichen, das jenseits aller Erfahrung liegt. Allein Locke fürchtete zugleich so sehr, die Idee Gott könne für eine dem Menschen angeborne Idee gehalten werden, es schien ihm so abgeschmackt, daß der Schöpfer, gleich einem großen Mahler, seinen Namen auf das Gemälde unserer Seele gezeichnet habe, daß er sich alle ersinnliche Mühe giebt, in Reisebeschreibungen auf Völker zu stoßen, welche keinen religiösen Glauben haben. Man kann, glaube ich, kühn behaupten, daß diese Völker nicht vorhanden sind. Die Bewegung, welche uns bis zur höchsten Intelligenz erhebt, findet sich in Newton's Genie, wie in der Seele des ärmsten Wilden, der dem Steine, worauf er ausgeruhet hat, seine Andacht beweiset. Niemand hat sich an die äußere Welt, wie sie ist, gehalten; alle haben, in irgend einer Epoche ihres Lebens, in dem Innersten ihres Herzens eine unaussprechliche Anziehung zu etwas Uebernatürlichem empfunden. Allein wie kommt es, daß ein so religiöses Wesen, wie Locke, es darauf anlegt, die Urcharaktere des Glaubens in eine zufällige Kenntniß zu verwandeln, die uns das Schicksal bewilligen oder rauben kann? Ich wiederhole es, die Richtung einer Lehre muß bei dem Urtheil, welches wir über die Wahrheit dieser Lehre fällen, immer in einen hohen Anschlag gebracht werden; denn in der Theorie ist das Gute und das Wahre unzertrennlich.
    Alles Sichtbare spricht zum Menschen von Anfang und von Ende, von Verfall und Auflösung. Ein göttlicher Funken ist in uns der einzige Anzeiger der Unsterblichkeit. Aber von welcher Sensation rührt dieser

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