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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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moralischen Widerwillen, welchen sie einflößen, überwinden müssen; aber man kann im Allgemeinen an diesen Widerwillen, als an ein untrügliches Zeichen dessen, was wir vermeiden sollen, glauben. Locke wollte beweisen, daß das Bewußtseyn des Guten und Bösen dem Menschen nicht angeboren sey, und daß er das Gerechte und Ungerechte, gerade wie das Rothe und Blaue nur aus Erfahrung kenne. Um zu seinem Zwecke zu gelangen, hat er alle Länder untersucht, wo Sitten und Gesetze Verbrechen zu Ehren bringen, namentlich die, wo man sichs zur Pflicht rechnet, seinen Feind zu tödten, die Ehe zu verachten, seinen Vater, wenn er alt ist, todt zu schlagen. Alles, was die Reisenden über grausame Gebräuche erzählt haben, hat er sorgfältig gesammelt. Was ist doch das für ein System, welches einem so tugendhaften Mann, wie Locke war, eine so heftige Begierde nach solchen Tatsachen einflößet?
    „Mögen dergleichen Thatsachen, könnte man sagen, traurig seyn, oder nicht; alles kommt darauf an, ob sie wahr sind.“ – Aber sie können wahr seyn, ohne daß man weiß, was sie bedeuten. Wissen wir denn nicht aus unserer eigenen Erfahrung, daß die Umstände, d. h. die äußeren Gegenstände, auf die Art und Weise, unsere Pflichten auszulegen, Einfluß haben? Man vergrößere diese Umstände, und man wird darin die Ursache der Verirrungen der Völker finden. Allein giebt es Völker oder Menschen, welche läugnen, daß es Pflichten gebe? Hat man jemals behauptet, daß mit der Idee des Gerechten und des Ungerechten keine Bedeutung verbunden sey? Die Erklärung, welche man davon giebt, kann verschieden seyn; allein die Ueberzeugung von dem Princip ist überall dieselbe; und in dieser Ueberzeugung besteht das Urgepräge, das man in allem Humanen wiederfindet.
    Wenn der Wilde seinen alten Vater tödtet, so glaubt er ihm dadurch einen Dienst zu erzeigen. Er thut dies nicht um seines eigenen Vortheils willen, wohl aber zum Besten seines Vaters. Die Handlung, welche er begeht, ist abscheulich; aber deswegen fehlt es ihm noch nicht an Gewissen; und daraus, daß ihm gewisse Einsichten abgehen, folgt keinesweges, daß es keine Tugenden für ihn gebe. Die Sensationen, d. h. die äußerlichen Gegenstände, von welchen er umgeben ist, verblenden ihn; das innige Gefühl, welches den Haß gegen das Laster und die Achtung für die Tugend ausmacht, wohnt ihm nicht minder bei, wiewol ihn die Erfahrung über die Art und Weise, wie dies Gefühl sich im Leben offenbaren soll, irre geleitet hat. Andere sich vorziehen, wenn die Tugend es befiehlt – dies gerade macht das Wesen des moralischen Schönen aus; und dieser bewundernswürdige Instinkt der Seele, wie sehr er jedem physischen Instinkt entgegen seyn mag, ist unserer Natur inhärirend. Könnte er erworben werden, so könnte er auch wieder verloren gehen; aber er ist unveränderlich, weil er angeboren ist. Möglich, daß man das Böse thut, indem man das Gute zu thun glaubt; möglich sogar, daß man schuldig wird mit Wissen und Willen: allein etwas so widersprechendes, wie die Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit, kann nicht als Wahrheit angenommen werden.
    Die Gleichgültigkeit gegen das Gute und Böse ist das gewöhnliche Ergebniß einer gewissermaßen versteinerten Civilisation; und diese Gleichgültigkeit ist ein bei weitem stärkeres Argument gegen das angeborne Gewissen, als die gröbsten Irrthümer der Wilden. Aber die allerzweifelsüchtigsten Menschen rufen, wenn sie in der einen oder der anderen Hinsicht unterdrückt werden, die Gerechtigkeit an, als ob sie ihr ganzes Leben hindurch daran geglaubt hätten; und wenn sie von einer heftigen Empfindung ergriffen sind und man ihnen Gewalt anthut, so appelliren sie an das Billigkeitsgefühl, trotz den strengsten Moralisten. Sobald irgend eine Flamme, sey es die des Unwillens oder die der Liebe, sich unseres Gemüths bemächtigt, so gehen die heiligen Charaktere der ewigen Gesetze wieder in uns hervor.
    Entschiede der Zufall der Geburt und der Erziehung über die Moralität eines Menschen, wie könnte man ihn alsdann wegen seiner Handlungen anklagen? Wenn alles, was unsern Willen ausmacht, von äußeren Gegenständen herrührt, so kann jeder, zur Rechtfertigung seines Betragens, an besondere Beziehungen appelliren; und oft sind diese Beziehungen unter den Bewohnern desselben Landes eben so verschieden, als ein Asiat und ein Europäer. Dürfte also die Macht der Umstände die Gottheit der Sterblichen seyn, so würde daraus folgen, daß jeder

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