Ueber Deutschland
fühlen, wollen sollen, damit die ganze Kraft unserer Seele uns bei dem Eindringen in die Tiefen des Göttlichen unterstütze. Bei der Abstraktion stehen bleiben, ist mit einer solchen Anstrengung verbunden, daß es uns nicht auffallen muß, wenn die Meisten darauf Verzicht geleistet haben, und wenn es ihnen vorgekommen ist, als müsse man jenseits des Sichtbaren nichts zugeben.
Die Erfahrungs-Philosophie ist in sich selbst vollständig; freilich ein gemeines Ganzes, aber geschlossen, begränzt, konsequent, so daß man davon befriedigt wird, wenn man sich an das Raisonnement hält, das in den Angelegenheiten dieser Welt hergebracht ist. Das Unsterbliche und Unendliche wird uns nur fühlbar durch das Gemüth; dieses allein vermag also ein Interesse über die hohe Metaphysik zu verbreiten. Es ist eine ganz falsche Ueberredung, wenn man glaubt, daß, je abstrakter eine Theorie sey, desto mehr müsse sie vor Täuschungen bewahren; denn gerade dadurch kann sie irre leiten. Man hält die Verkettung der Ideen für Beweis; man bringt Schimären mit Sorgfalt in Reih' und Glied, und meint, daß dies eine Armee sey. Nur das Genie des Gefühls ist über die Erfahrungs-Philosophie, wie über die spekulative erhaben, und nur dies Genie kann die Ueberzeugung über die Schranken der menschlichen Vernunft hinausführen.
Es kommt mir also vor, als ob man, mit aller Bewunderung für die Denkkraft und das gründliche Genie Leibnitzens, in seinen Schriften über metaphysische Theologie mehr Einbildungskraft und Gefühl antreffen sollte, um vom Nachdenken in der Rührung ausruhen zu können. Leibnitz machte sich beinahe ein Gewissen daraus, seine Zuflucht zum Gefühl zu nehmen, indem er das Ansehn fürchtete, als habe er zur Wahrheit verführen wollen. Er hatte aber Unrecht; denn in Gegenständen dieser Art ist das Gefühl die Wahrheit selbst.
Die Ausstellungen, welche ich mir über diejenigen Werke Leibnitzens erlaubt habe, deren Gegenstand unauflösbare Fragen sind, finden keine Anwendung auf seine Schriften über die Bildung der Ideen im menschlichen Geiste. Diese haben eine glänzende Klarheit. Sie beziehen sich nehmlich auf ein Geheimniß, welches der Mensch bis auf einen gewissen Punkt ergründen kann; denn er weiß über sich selbst mehr, als über das Universum. Leibnitzens Meinungen in dieser Hinsicht zwecken vorzüglich auf moralische Vervollkommnung ab, wenn, wie einige deutsche Philosophen zu beweisen versucht haben, es ausgemacht ist, daß der freie Wille auf der Lehre beruht, welche die Seele von den äußeren Gegenständen losreißet, und daß die Tugend nicht ohne die vollkommenste Unabhängigkeit des Wollens existiren kann.
Mit bewundernswürdiger Dialektik hat Leibnitz das Lockische System bekämpft, welches alle unsere Ideen unseren Sensationen zuschreibt. Man hatte das bekannte Axiom aufgestellt, „daß in dem Verstande nichts sey, was nicht vorher in den Sinnen da gewesen;“ und Leibnitz fügte die erhabene Einschränkung hinzu: wofern es nicht der Verstand selbst ist. [Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi intellectus ipse.] Aus diesem Prinzip ist die ganze neue Philosophie abgeflossen, welche auf die Geister in Deutschland einen so beträchtlichen Einfluß hat. Diese Philosophie ist auch Erfahrungs-Philosophie; denn sie geht darauf aus, zu erkennen, was in uns vorgeht; sie bringt nur die Beobachtung des innersten Gefühls an die Stelle der Beobachtung äußerlicher Sensationen.
Locke's Lehre hatte in Deutschland Anhänger, welche, wie Bonnet und mehrere andere Philosophen in England, darauf ausgingen, diese Lehre mit den religiösen Gefühlen zu vereinbaren, zu welchen sich Locke selbst standhaft bekannt hat. Leibnitzens Genie sah alle Folgerungen dieser Metaphysik vorher; und was seinen Ruhm für immer begründet, ist, daß er in Deutschland die Philosophie der moralischen Freiheit gegen die des sensuellen Fatalismus aufrecht zu halten verstand. Während das übrige Europa jene Principe annahm, welche die Seele als ein rein passives Wesen darstellen, war Leibnitz der aufgeklärte Vertheidiger der idealistischen Philosophie, wie sein Genie sie aufgefaßt hatte. Nicht die mindeste Aehnlichkeit hatte sie weder mit Berkeley's System, noch mit den Träumereien der griechischen Skeptiker über das Nicht-Daseyn der Materie; allein sie vertheidigte das moralische Seyn in seiner Unabhängigkeit und in seinen Rechten.
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Sechstes Capitel. Kant.
Kant hat ein sehr hohes Alter
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