Ueber Deutschland
Vermögen desto unumschränkter in uns herrschen mögen. Die algebraische Methode, angewendet auf Gegenstände, welche durch das bloße Raisonnement nicht gefaßt werden können, läßt in dem-Geiste keine dauerhafte Spur zurück. Während man diese Schriften über hohe philosophische Conceptionen lieset, glaubt man sie zu verstehen, glaubt man sie zu glauben; aber selbst die Argumente, in welchen die meiste Beweiskraft zu liegen schien, entschlüpfen der Erinnerung nur allzu leicht.
Beschränkt sich nun der von solchen Anstrengungen ermüdete Leser daraus, daß er nichts anerkennen will, was nicht von den Sinnen herrührt: so wird für ihn alles zu Schmerz werden. Wird er die Idee von Unsterblichkeit haben, wenn die Vorläufer der Zerstörung aus dem Antlitz der Sterblichen so tief eingegraben sind, und die lebende Natur unablässig in Staub zerfällt? Welche schwache Hoffnung würden wir vom Wiederaufleben haben, wenn alle Sinne vom Sterben sprächen? Und welche Idee könnten wir von der höchsten Güte haben, wenn wir nur unsere Sensationen um Rath fragten! So viele Schmerzen streiten sich um unser Leben, so viele abscheuliche Gegenstände entehren die Natur, daß die unglückliche Kreatur das Daseyn hundertmal verflucht, ehe es ihr durch einen letzten Krampf entrissen wird. Verwirft im Gegentheil der Mensch das Zeugniß der Sinne, woran soll er sich auf dieser Erde halten? Und wenn er nur ihnen glaubt, welcher Enthusiasmus, welche Moral, welche Religion würden den wiederholten Anfällen widerstehen, welche Schmerz und Vergnügen abwechselnd auf sie machen würden?
Das Nachdenken schwankte in dieser unermeßlichen Ungewißheit, als Kant den Versuch machte, die Gränzen der beiden Gebiete, der Sinne und der Seele., der intellektuellen Natur zu ziehen. Die Macht des Nachdenkens und die Weisheit, womit er diese Gränzen festsetzte, waren vor ihm vielleicht beispiellos gewesen. Er verirrte sich nicht in neue Systeme über die Schöpfung der Welt; er erkannte die Schranken, welche die ewigen Geheimnisse dem menschlichen Geiste setzen; und was für Diejenigen, welche von Kant nur reden gehört haben, vielleicht ganz neu seyn wird, ist, daß es nie einen Philosophen gegeben hat, der in mehreren Beziehungen ein entschiedenerer Gegner der Metaphysik gewesen wäre. Wirklich ist er in diese Wissenschaft nur so tief eingedrungen, um die Mittel, welche sie gewährt, zur Nachweisung ihrer Unzulänglichkeit zu gebrauchen; man möchte sagen, er habe sich als ein zweiter Kurtius in diesen Schlund gestürzt, um ihn auszufüllen.
Locke hatte die Lehre von den angebornen Ideen siegreich bekämpft, weil er die Ideen immer als einen Theil der Erfahrungs-Erkenntnisse dargestellt hat; die Erforschung der reinen Vernunft, d. h. der Unvermögen, aus welchen die Intelligenz besteht, beschäftigte seine Aufmerksamkeit nicht. Leibnitz, wie wir oben angeführt haben, sprach das erhabene Axiom aus: „Es ist nichts in dem Verstande, was nicht von den Sinnen herrührt, wofern es nicht der Verstand selbst ist." Kant hat, wie Locke erkannt, daß es keine angeborne Ideen gebe; aber er hat sich vorgenommen, in den Sinn des Leibnitzischen Axioms einzudringen, indem er untersucht, welches die Gesetze und die Gefühle sind, die das Wesen der menschlichen Seele unabhängig von aller Erfahrung constituiren. Die Kritik der reinen Vernunft legt es darauf an, zu zeigen, worin diese Gesetze bestehen, und welches die Gegenstände sind, an welchen sie ausgeübt werden können.
Der Skepticismus, zu welchem der Materialismus in der Regel führt, war so weit getrieben worden, das Hume sogar die Grundfeste des Raisonnements erschüttert hatte; dadurch nehmlich, daß er Beweise gegen das Axiom aufstellte: Keine Wirkung ohne Ursache . So groß ist die Unstätigkeit der menschlichen Natur, wenn man das Princip aller Ueberzeugung nicht in den Mittelpunkt der Seele stellt, daß der Unglaube, welcher immer mit Angriffen auf das Daseyn der moralischen Welt beginnt, zuletzt dahin gelangt, auch die materielle Welt zu zerstören, deren er sich Anfangs nur zum Umsturz der ersteren bedient hatte.
Kant wollte wissen, ob die absolute Gewißheit dem menschlichen Geiste möglich wäre, und er hat sie nur in den nothwendigen Notionen gefunden, d. h. in allen den Gesetzen unseres Verstandes, welche von einer solchen Beschaffenheit sind, daß wir nur dasjenige fassen können, was diese Gesetze uns gestatten.
Zu den ersten gebietenden Formen unseres Geistes gehören Raum und
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