Ueber Deutschland
erreicht, und ist nie aus Königsberg gekommen. Unter den Eisschollen des Norden hat er sein ganzes Leben damit zugebracht, über die Gesetze des menschlichen Geistes zu denken. Vermöge eines unermüdlichen Eifers hatte er Kenntnisse aller Art erworben. Die Wissenschaften, die Sprachen, die Literatur, alles war ihm geläufig; und ohne den Ruhm zu suchen, den er erst sehr spät genoß —denn erst in einem hohen Alter vernahm er den Wiederhall seines berühmten Namens — begnügte er sich mit dem stillen Vergnügen des Nachgrübelns. In seiner Einsamkeit betrachtete er seine Seele mit Andacht. Die Erforschung des Gedankens gab ihm neue Kräfte zur Unterstützung der Tugend; und ob er gleich mit den glühenden Leidenschaften der Menschen nie etwas zu schaffen hatte: so hat er doch Waffen für die geschmiedet, welche zur Bekämpfung derselben berufen seyn können.
Bei den Griechen hat man schwerlich ein Beispiel von einem so streng philosophischen Leben, und schon dieses Leben verbürgt die Ehrlichkeit des Schriftstellers. Zu dieser reinen Ehrlichkeit aber muß man einen seinen und gerechten Geist hinzudenken, der dem Genie zum Sittenrichter diente, wenn es sich allzuweit führen ließ. Dies, dünkt mich, ist genug, damit man zum wenigsten unpartheiisch über die beharrlichen Werke eines solchen Mannes urtheile.
Kant schrieb Anfangs über die physischen Wissenschaften, und zeigte in dieser Art von Studien einen solchen Scharfsinn, daß er das Dasein des Planeten Uranus zuerst vorhersah. Herschel selbst hat nach der Entdeckung anerkannt, daß Kant diesen Planeten zuerst angekündigt hat. Seine Abhandlung über den menschlichen Verstand, betitelt: K ritik der reinen Vernunft , erschien vor ungefähr dreißig Jahren, und dies Werk blieb eine Zeitlang unbekannt; als man aber endlich den Schatz von Ideen entdeckte, der darin enthalten war, machte es in Deutschland eine solche Sensation, daß alles, was seitdem im Fache der Literatur und der Philosophie zum Vorschein gekommen ist, von dem Antriebe herrührt, welchen jenes Werk gegeben hat.
Aus diese Abhandlung über den menschlichen Verstand folgte die Kritik der praktischen Vernunft , welche aus die Moral ging, und die Kritik der Urtheilskraft , welche die Natur des Schönen zum Gegenstande hatte. Dieselbe Theorie liegt diesen drei Abhandlungen zum Grunde, welche die Gesetze der Intelligenz, die Principe der Tugend, und die Betrachtung aller Schönheiten der Natur und der Künste umfassen.
Ich will versuchen, einen Ueberblick von den Haupt-Ideen zu geben, welche diese Lehre enthält. Aber wie sehr ich mich auch bemühen mag, sie mit Klarheit darzulegen: so verhehle ich mir nicht, daß es noch immer der Aufmerksamkeit bedarf, um sie zufassen. Ein Fürst, der die Mathematik lernte, ward ungeduldig über die Mühe, welche dies Studium erforderte. „Ew. Hoheit, sagte sein Lehrer, müssen sich die Anstrengung nicht verdrießen lassen, die es kostet, um etwas zu lernen; denn in der Mathematik giebt es keinen Königsweg." Das französische Publikum, welches so viel Ursache hat, sich für einen Fürsten zu halten, wird wohl erlauben, daß man ihm sage, in der Metaphysik gebe es keinen Königsweg, und um irgend eine Theorie zu fassen, müsse man alle die Mittelwege einschlagen. die den Urheber derselben zu den Resultaten geführt haben, welche er darstellt.
Die materialistische Philosophie übergab den menschlichen Verstand der Herrschaft äußerer Gegenstände, die Moral dem persönlichen Eigennutz, und wollte, daß das Schöne eins sey mit dem Angenehmen. Kant wollte die ursprünglichen Wahrheiten und die freiwillige Thätigkeit in dem Geiste, das Gewissen in der Moral, und das Ideal in den Künsten wieder herstellen. Untersuchen wir nun, auf welche Art er diese verschiedenen Zwecke erreicht hat.
Um die Zeit, wo die Kritik der reinen Vernunft erschien, gab es unter den Denkern nur zwei Systeme über den menschlichen Verstand; das Lockische, welches alle unsere Ideen unseren Sensationen zuschrieb , und das Descartische und Leibnitzische, welche darauf ausgingen, die Spiritualität und ursprüngliche Thätigkeit der Seele, den freien Willen, kurz die idealistische Lehre zu beweisen, wiewohl Descartes und Leibnitz ihre Lehre auf rein spekulative Beweise gründeten. In dem vorhergehenden Capitel habe ich von den Nachtheilen gesprochen, welche das Resultat jener angestrengten Abstraktion sind, die, um mich so auszudrücken, den Umlauf des Blutes hemmt, damit die intellektuellen
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