Ueber Deutschland
sich scharfsinnige und neue Ansichten nur aus ihr schöpfen lassen; denn der materialistische Gesichtspunkt bietet in keinem Stücke noch etwas Anziehendes und Originelles dar. Abgenutzt ist das Stechende des Witzes, gegen das Ernste, Edle, Göttliche; und man wird künftig dem menschlichen Geschlechte nur dadurch eine Jugendkraft wiedergeben, daß man durch die Philosophie zur Religion, und durch die Vernunft zum Gefühl zurückkehrt.
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Siebentes Capitel. Von den berühmtesten Philosophen Deutschlands vor und nach Kant.
Der philosophische Geist kann, seiner Natur nach, nicht füglich in irgend einem Lande allgemein verbreitet seyn. Indeß giebt es in Deutschland eine solche Hinneigung zum Grübeln, daß die deutsche Nation vorzugsweise als eine metaphysische Nation betrachtet werden kann. Sie hat einen solchen Ueberfluß an Menschen, welche im Stande sind, abstrakte Fragen zu fassen, daß das Publikum selbst Theil nimmt an den Argumenten, die in Erörterungen dieser Art angewendet werden.
Jeder Mensch von Verstand hat seine eigenthümliche Ansicht von philosophischen Fragen. Schriftsteller der zweiten und dritten Ordnung haben in Deutschland noch Kenntnisse, welche gründlich genug sind, daß sie anderwärts an die Spitze treten könnten. Die Nebenbuhler hassen sich in diesem Lande, wie in jedem anderen; aber niemand würde in die Schranken zu treten wagen, ohne durch gründliche Studien seine aufrichtige Liebe für die Wissenschaft, die ihn beschäftigt, beurkundet zu haben. Es ist nicht genug, daß man den glücklichen Erfolg liebe; man muß ihn auch verdienen, um nur zur Mitbewerbung um denselben hinzugelassen zu werden. Wie nachsichtig die Deutschen auch seyn mögen, wenn blos von dem möglichen Mangel an Form in Hinsicht eines Werks die Rede ist: so sind sie doch unerbittlich in Rücksicht des reellen Werths desselben, und wenn sie bemerken, daß im Verstande, im Gemüthe, oder in dem Wissen eines Schriftstellers etwas oberflächlich ist, so nehmen sie sogar den französischen Spott an, um das Leichtfertige lächerlich zu machen.
Ich habe mir vorgenommen, in diesem Capitel eine schnelle Uebersicht von den Hauptmeinungen berühmter Philosophen vor und nach Kant zu geben; denn man würde über den Gang, welchen seine Nachfolger genommen haben, nicht richtig urtheilen, wenn man nicht zurückginge, um sich den Zustand der Geister in Deutschland in den Augenblick zu vergegenwärtigen, wo die Kantische Lehre sich daselbst verbreitete. Sie bestritt zugleich das Lockische System als nach Materialismus hinneigend, und die Leibnitzische Schule, als alles auf die Abstraktion zurückführend.
Leibnitzens Gedanken waren groß; aber seine Schüler, und Wolf an ihrer Spitze, commentirten sie mit logischen und metaphysischen Formen. Leibnitz hatte behauptet, die Begriffe, welche uns durch die Sinne zu Theil würden, seyen verworren und nur diejenigen, welche den unmittelbaren Perceptionen des Gemüths angehörten, allein klar. Unstreitig wollte er dadurch anzeigen, daß die unsichtbaren Wahrheiten gewisser sind, und mit unserem moralischen Seyn mehr in Harmonie stehen, als alles, was wir durch das Zeugniß der Sinne in uns aufnehmen. Hieraus zogen Wolf und dessen Schüler die Folgerung, daß alles, was unseren Geist beschäftigen kann, auf abstrakte Ideen zurückgeführt werden müsse. In diesen Idealismus ohne Leben brachte Kant Interesse und Wärme; er gab der Erfahrung ihren gerechten Theil, wie den angebornen Ideen, und die Kunst, womit er seine Theorie auf alles anwandte, was den Menschen interessirt, ich meine die Moral, die Poesie und die schönen Künste, vermehrte den Einfluß derselben.
Drei vorzügliche Köpfe waren Kants Vorläufer auf der philosophischen Bahn: Lessing, Hemsterhuis und Jacobi. Keiner von ihnen wurde Stifter einer Schule, weil keiner von ihnen ein System gründete; aber sie waren es, welche den Angriff auf den Materialismus begonnen. Von allen dreien war Lessing der, dessen Meinungen am wenigsten entschieden waren; bei dem allen hatte er allzu viel Umfang des Geistes, um sich auf den engen Zirkel zu beschränken, den man durch Verzichtleistung auf die höchsten Wahrheiten sich so leicht ziehet. Lessings allmächtige Polemik weckte den Zweifel über die allerwichtigsten Fragen, und veranlaßte Erforschungen aller Art. Er selbst kann weder als Materialist, noch als Idealist, betrachtet werden: aber das Bedürfniß zu Forschungen und Studien, um seine Kenntnisse zu
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