Ueber Deutschland
selbst, und die Schriftsteller geben den Kunstwerken nicht immer die auffallende Lichthelle, welche ihnen nothwendig ist. Man kann, man darf sogar eine gleichmäßig angestrengte Aufmerksamkeit fordern, wenn es auf abstrakte Ideen ankommt; aber die Bewegungen des Herzens sind unwillkührlich. Beim Genuß der Kunstwerke kann weder von Gefälligkeit, noch Anstrengung, noch Nachsinnen die Rede seyn; um Vergnügen handelt es sich, nicht um Raisonnement. Der philosophische Geist kann die Erforschung in Anspruch nehmen, aber das poetische Talent muß fortreissen.
Die sinnreichen Ideen, welche aus Theorieen herstammen, täuschen über die wahre Natur des Talents. Geistreich beweiset man, daß dies oder jenes Stück nicht habe gefallen sollen, und doch gefällt es, und dann fängt man an, Diejenigen zu verachten, welche es lieben. Man beweiset auch, daß dieses oder jenes Stück, nach diesen oder jenen Principien komponirt, interessiren müsse, und doch, wenn es aufgeführt wird, und man ihm zuruft: Stehe auf und wandele : so geht es damit nicht, und man muß noch einmahl Diejenigen verachten, welche kein Belieben finden an einem Werke, das nach allen Gesetzen des Idealen und Realen komponirt ist. Man hat beinahe immer Unrecht, wenn man den Geschmack des Publikums tadelt; denn der Volkseindruck ist philosophischer, als die Philosophie selbst, und wenn die Gedankenverbindung des Unterrichteten nicht zu diesem Eindruck paßt: so rührt dies nicht daher, daß sie allzu tief gewesen ist, sondern daher, daß sie nicht tief genug ist.
Bei dem allen ist es, wie es mir scheint, ungleich besser für die Literatur eines Landes, daß seine Poetik auf philosophische Ideen, selbst wenn sie ein wenig abstrackt seyn sollten, gegründet ist, als auf bloße äußerliche Regeln; denn diese Regeln sind immer nur Leitbänder, um die Kinder am Fallen zu verhindern.
Die Nachahmung der Alten hat bei den Deutschen eine ganz andere Richtung genommen, als in dem übrigen Europa. Der gewissenhafte Character, von welchem sie sich niemals trennen, hat sie dahin geführt, den modernen Genius nicht mit dem antiken zu vermengen; sie behandeln in einiger Hinsicht die Fictionen als Wahrheit, denn sie finden das Mittel, den Gewissenszweifel einzumischen; sie wenden auch dieselbe Anlage auf die genaue und tiefe Kenntniß der Denkmäler an, welche uns von längst vergangenen Zeiten übrig geblieben sind. In Deutschland vereinigt das Studium des Alterthums, wie das der Wissenschaften und der Philosophie, die getheilten Zweige des menschlichen Geistes.
Heyne umfaßt alles, was sich auf die Literatur, die Geschichte und die schönen Künste bezieht, mit einem erstaunlichen Scharfblick. Wolf macht die feinsten Beobachtungen, die kühnsten Andeutungen, und indem er sich keiner Autorität unterwirft, urtheilt er aus sich selbst über die Aechtheit der griechischen Schriften und ihren Werth. In einer von Herrn Ch. de Villers letzten Schriften, welche ich bereits mit der hohen Achtung, die sie verdient, erwähnt habe, kann man sehen, welche unermeßliche Arbeiten jährlich in Deutschland über die klassischen Autoren bekannt gemacht werden. Die Deutschen glauben sich in allen Dingen zur Rolle der Zuschauer berufen, und man möchte von ihnen sagen, sie gehören ihrem Jahrhundert nicht an, so sehr drehen sich ihre Betrachtungen und ihr Interesse um eine andere Welt-Epoche.
Möglich, daß die bessere Zeit für die Poesie die der Unwissenheit war, und daß die Jugend des menschlichen Geschlechts für immer dahin ist. Indeß fühlt man in den Schriften der Deutschen eine neue Jugend, die, welche hervorgeht aus der edlen Wahl, welche man treffen kann, wenn man Alles kennen gelernt hat. Das Zeitalter der Einsicht hat seine Unschuld eben sowohl, wie das goldene Zeitalter, und wenn man in der Kindheit des menschlichen Geschlechts nur seinem Gemüthe vertraut: so kommt man dahin zurück, nachdem man alles erfahren hat.
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Zehntes Capitel. Einfluß der neuen Philosophie auf die Wissenschaften.
Es läßt sich nicht bezweifeln, daß die idealistische Philosophie zur Andacht führe, und daß, indem sie den Geist zum Zurückgehen auf sich selbst geneigt macht, sie auch seinen Scharfsinn und seine Beharrlichkeit in intellectuellen Verrichtungen vermehre. Allein, ist diese Philosophie jenen Wissenschaften, welche auf der Beobachtung der Natur beruhen, eben so günstig? Die nachfolgenden Bemerkungen sind der Beantwortung dieser Frage gewidmet.
Ganz
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