Ueber Deutschland
gegen dieses beweinenswerthe Nicht-Bewußtseyn seiner selbst. Der Vater läßt seinen Sohn alles Schreckliche dieser Lage entwickeln, und plötzlich legt er ihm die Frage vor: ob die Lage des Verbrechers, welcher jene verursacht hat, nicht noch tausendmal furchtbarer sey? Die Abstufung der Gedanken ist in dieser Erzählung sehr gut gehalten, und das Gemählde der Gewissensfoltern beredt genug dargestellt, um den Schrecken der fürchterlichsten von allen, der Gewissensangst, zu verdoppeln.
Ich habe die Stelle des Messias angeführt, wo der Dichter in einem entfernten Planeten, dessen Bewohner unsterblich sind, einen Engel annimmt, welcher die Nachricht bringt, daß es eine Erde giebt, wo die menschlichen Geschöpfe dem Tode unterworfen sind. Klopstock entwirft ein bewundernswürdiges Gemählde von dem Erstaunen dieser Wesen, welchen der Schmerz über den Verlust geliebter Gegenstände unbekannt ist. Engel entwickelt eine nicht minder schlagende Idee mit Talent. Ein Mann hat umkommen sehen, was ihm das Theuerste war: seine Frau und seine Tochter. Ein Gefühl von Bitterkeit und Empörung gegen die Vorsehung hat sich seiner bemächtigt. Ein alter Freund sucht sein Herz jenem tiefen aber gefaßten Schmerze, der sich in dem Schooße der Gottheit ergießt, wieder zu öffnen; er will ihm zeigen, daß der Tod die Quelle aller Genüsse des Menschen ist.
Würde es elterliche und kindliche Zuneigungen geben, wenn das Daseyn der Menschen nicht zugleich dauerhaft und flüchtig, festgehalten vom Gefühl und fortgerissen von der Zeit, wäre? Wenn es in der Welt keinen Verfall gäbe: so würde es auch keine Fortschritte geben. Wie sollte man also Furcht und Hoffnung empfinden? Kurz, in jeder Handlung, in jedem Gefühl, in jedem Gedanken ist ein Theil vom Tode. Und nicht blos in der That, sondern selbst in der Einbildung, sind die Freuden und Leiden, welche von der Unbeständigkeit des Lebens herrühren, unzertrennlich. Das ganze Daseyn besteht in jenen Empfindungen des Vertrauens und der Angst, welche die zwischen Himmel und Erde schwebende Seite erfüllen, und das Leben hat keine andere Triebfeder, als das Sterben.
Von den Gewittern der mittäglichen Gegenden erschreckt, wünschte eine Frau einst nach der Eiszone zu wandern, wo man nie den Donner hört, nie die Blitze sieht. Ungefähr eben so, sagt Engel, verhält es sich mit unseren Klagen über das Schicksal. In der That, man muß die Natur entzaubern, wenn man die Gefahren daraus entfernen will. Der Reiz der Welt steht mit dem Schmerz und dem Vergnügen, mit dem Entsetzen und der Hoffnung in gleicher Verbindung; und man möchte sagen, die menschliche Bestimmung sey angeordnet, wie ein Drama, in welchem Schrecken und Mitleid nothwendig sind.
Um die Wunden des Herzens zu vernarben, reichen diese Gedanken freilich nicht aus; denn alles, was es empfindet, erscheint ihm als ein Umsturz der Natur, und Niemand hat gelitten, ohne zu glauben, es herrsche eine große Unordnung im Universum. Aber wenn ein langer Zeitraum zum Nachdenken hingeleitet hat: so findet man einige Ruhe in den allgemeinen Betrachtungen, und vereinigt sich mit den Gesetzen der Natur, indem man sich losreißt von sich selber.
Die deutschen Moralisten der alten Schule sind größtentheils religiös und empfindsam; ihre Theorie der Tugend ist uneigennützig; sie gestatten nicht jene Lehre von der Nützlichkeit, die, wie in China, dahin führen würde, daß man die Kinder in den Fluß würfe, wenn die Bevölkerung allzu zahlreich würde. Ihre Werke sind voll von philosophischen Ideen und melancholischen und zärtlichen Gefühlen. Dies reichte aber nicht aus, um die selbstische mit hochfahrender Ironie bewaffnete Moral zu bekämpfen. Dies war nicht genug, um Sophismen zu widerlegen, deren man sich gegen die wahrsten und besten Principe bedient hatte. Die sanfte, bisweilen sogar furchtsame Empfindsamkeit der alten deutschen Moralisten war nicht vermögend, die gewandte Dialektik und die geschniegelte Spötterei, die, wie alle bösen Gefühle, nur die Stärke ehren, mit Erfolg zu Boden zu werfen. Gestähltere Waffen sind erforderlich, um die zu besiegen, welche das Laster geschmiedet hat; und deshalb haben die Philosophen der neuen Schule mit Recht geglaubt, daß es einer strengeren, einer vollkräftigeren, einer in ihren Argumenten geschlosseneren Lehre bedürfe, um über die Verderbtheit des Jahrhunderts zu triumphiren.
Ohne Zweifel reicht alles Einfache für alles Gute aus; wenn man aber in einer Zeit lebt, wo
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