Ueber Deutschland
von einem Gefühl, das sie beruhigt, viel zu befürchten haben sollte.
Wir verfügen weder über unsere Geburt, noch über unsern Tod, und zwei Drittel unseres Geschicks werden durch diese beiden Ereignisse bestimmt. Niemand vermag zu verändern, was in seiner Geburt, in seinem Lande, in seinem Jahrhunderte u.s.w. ursprünglich gegeben ist. Niemand kann eine Gestalt, niemand einen Geistesreichthum erwerben, die die Natur ihm versagt hat. Und aus wie viel andern gebieterischen Umständen ist das Leben nicht zusammengesetzt! Wenn unser Schicksal aus hundert Loosen besteht, so sind neun und neunzig davon nicht in unserer Gewalt; und die ganze Wuth unseres Willens ergießet sich noch über den kleinen schwachen Antheil, welcher in unserer Gewalt steht. Die Einwirkung des Willens auf diesen schwachen Antheil ist also ausgezeichnet unvollständig. Die einzige freie That des Menschen, welche immer zum Ziele gelangt, ist die Erfüllung der Pflicht; der Ausgang aller übrigen Beschlüsse hängt gänzlich von Zufälligkeiten ab, über welche die Klugheit selbst nichts vermag. Die meisten Menschen erhalten nicht, was sie heftig wollen; und die Glückseligkeit selbst, wenn sie ihnen zu Theil wird, kommt auf eine unerwartete Weise.
Die Lehre des Mystizismus gilt für strenge, weil sie Lossagung von sich selbst gebietet, und weil dies mit Recht sehr schwierig scheint. Gleichwol ist sie, der That nach, die sanfteste von allen. Sie besteht in dem Sprichwort: aus der Roth eine Tugend machen. Im religiösen Sinne ist aus der Noth eine Tugend machen gerade so viel, als: der Vorsehung die Regierung dieser Welt überlassen und in diesem Gedanken einen innigen Trost finden. Die mystischen Schriftsteller fordern nichts jenseits der Linie der Pflicht, so wie diese von allen rechtschaffenen Menschen gezogen ist: sie gebieten keine Kasteiungen; sie sind der Meinung, der Mensch dürfe weder den Schmerz herbeirufen, noch sich ihm entgegenbäumen, wenn er sich einstellet.
Welcher Nachtheil könnte also hervorgehn aus diesem Glauben, der die Ruhe des Stoicismus mit der Empfindsamkeit der Christen vereinigt? — Er hindert an der Liebe, wird man sagen. — Ach! nicht die religiöse Erhebung erkältet das Gemüth. Ein einziges Eitelkeits-Interesse hat mehr Liebeszunder vernichtet, als irgend eine Gattung strenger Grundsätze. Selbst die Wüste von Thebais schwächt nicht die Macht des Gefühls, und nur das Elend des Herzens verhindert zu lieben.
Man schreibt dem Mysticismus einen schweren Nachtheil zu. Trotz der Strenge seiner Grundsätze macht er, wie man behauptet, allzu nachsichtig in Ansehung der Werke, dadurch nemlich, daß er die Religion auf die inneren Eindrücke des Gemüths zurückführt und die Menschen geneigt macht, sich in ihre Fehler wie in unvermeidliche Ereignisse zu ergeben. Gewiß würde dem Geiste des Evangeliums nichts mehr entgegen seyn, als diese Art, die Unterwerfung unter den Willen Gottes zu deuten. Gäbe man zu, daß das religiöse Gefühl von irgend etwas dispensire: so würden daraus nicht blos eine Menge Heuchler hervorgehen, die behaupten würden, man müsse sie nicht nach den gemeinen Religionsproben, die man die Werke nennt, beurtheilen, und ihr geheimer Umgang mit Gott sei über alle Erfüllung von Pflichten hoch erhaben; sondern es würde auch Heuchler gegen sich selbst geben, und man würde auf diese Weise die Macht der Reue tödten. In der That, wer, der nur ein wenig Einbildungskraft besitzt, hat nicht Augenblicke religiöser Rührung? Wer hat nicht bisweilen mit Inbrunst gebetet? Und wenn dieses hinreichte, von der strengen Beobachtung der Pflichten loszusprechen, so würden sich die meisten Dichter für religiöser achten, als den h. Vincenz von Paula.
Aber mit Unrecht sind die Mystiker einer solchen Ansicht der Dinge beschuldigt worden. Ihre Werke und ihr Leben beweisen, daß sie in ihrem sittlichen Betragen eben so regelmäßig sind, als die, welche sich den Uebungen des strengsten Gottesdienstes unterworfen haben. Was man Nachsichtigkeit an ihnen nennt, ist der Scharfsinn, welcher die Natur des Menschen zergliedert, anstatt sich dabei aufzuhalten, ihm den Gehorsam zu empfehlen. Die Mystiker, die sich immer mit dem Grunde des Herzens beschäftigen, gewinnen das Ansehen, als hätten sie Nachsicht mit Verirrungen, weil sie die Ursachen derselben ausspähen.
Sehr oft hat man die Mystiker, und selbst die Christen, beschuldigt, daß sie hinneigten zu dem leidenden Gehorsam gegen jede Autorität; und man
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