Ueber die Liebe und den Hass
angrenzenden Raumes stehen sehen. Festgebunden und ängstlich.
Ich hatte bereits so eine gewisse Vermutung gehabt, dass der Meister alles andere als ein trockener Theoretiker war. Dafür war sein Auftreten zu resolut. Jedes Mal, wenn sein Metzgermesser eine imaginäre Halsschlagader aufschlitzte, wirkte er unbefriedigt. Aber das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Mein Gott, was nun?
Wir sind doch nur Schlachter in der Ausbildung, oder etwa nicht? Warum können wir nicht erst einmal an einem Dummyschaf mit Wollpelz üben?
Es war absurd. Ich meine, wenn jemand einen Kurs zum Sanitäter absolviert, dann bekommt er doch auch nicht gleich einen Mann mittleren Alters auf den Tisch, der gerade einen Herzanfall erlitten hat. Nach dem Motto: »Und nun haben Sie genau zwanzig Sekunden Zeit, den Mann zu reanimieren, wer will zuerst?«
Ich würde nie erfahren, wie das Schicksal des armen Tieres aussah, das dort an jenem Tag im Schlachthaus stand. Der Tag endete zum Glück ohne praktische Übungen.
Der Idd al Adha rückte mit großen Schritten näher, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Endlich war mein Vater stolz. Sein Sohn würde zum ersten Mal in seinem Leben wie ein echter Mann an dem Idd teilnehmen. Ich hatte Arbeit, ich ging zum Gebet. Zumindest, wenn nicht etwas Unerwartetes dazwischenkam. Wie zum Beispiel meine Freunde.
Wenn ich nicht aufpasste, dann würde der nächste Schritt ein Mädchen in einem weißen Brautkleid sein.
Eines Abends klingelte mein Vater bei mir. Ob ich nicht mit in die Moschee kommen wolle für das letzte Abendgebet. Es handelte sich nicht um einen Vorschlag, bei dem einem die Wahl gelassen wurde. Also sputete ich mich und überlegte, ob mir noch genug Zeit bliebe, unauffällig die vier anderen Gebete zu verrichten, zu denen ich während des Tages nicht gekommen war. Vielleicht irgendwo in einer Ecke der Moschee oder im Durchgang, jedenfalls nicht im Beisein meines Vaters. Aber es sah nicht danach aus.
Dann eben ohne. Mein unerschütterliches Vertrauen in Gottes Gnade war mein Trost. Die Moschee war an diesem gewöhnlichen Abend in der Woche nicht stark besucht. Während ich meine rituellen Waschungen absolvierte, stellte sich der Imam neben mich.
»Dein Vater ist stolz auf dich, Rachid. Er erzählt jedem, der es hören will, dass du eine wichtige Aufgabe für unsere Gemeinde im Auftrag der Stadt ausüben wirst. Innerhalb der Moschee haben wir eine kleine informelle Gruppe gebildet, mit Leuten wie dir. Ich möchte dich einladen, nach dem Gebet noch einen Moment zu bleiben. Wir haben ein kurzes Treffen.«
Eine kleine Gruppe mit Leuten wie mir? Wie bitte? Waren Redouan und Hafid etwa auch hier? Ich kannte eine Menge Leute, aber die Einzigen, die man in etwa mit mir vergleichen konnte, waren diese beiden Typen, und die hätten nie im Leben einen Fuß in die Moschee gesetzt.
Nun ja, sie waren zwar gläubig, doch beriefen sie sich auf ihr menschliches Recht der Verfehlungen. Sie vertrauten vollkommen darauf, irgendwann den Weg zur Wahrheit zu finden, nachdem sie vorher alles mitgemacht und alles ausprobiert hatten. Zur richtigen Zeit und gelenkt von einem angeborenen, unfehlbaren GPS.
Deshalb hatte ich nach dem Gebet auch fest vor, einfach geräuschlos zu verschwinden. Doch ich hatte die Rechnung ohne meinen stolzen Vater gemacht.
»Du bleibst noch da, Rachid, oder? Mach die Ohren auf, Sohn, hier kannst du noch Sachen lernen. Bis morgen, so Gott will.«
»Ja, Vater, bis morgen.«
Ach egal, habe ich gedacht, soll er doch diesen Moment genießen, der gewiss nur von kurzer Dauer sein wird. Lass ihn doch stolz sein und allen erzählen, sein Sohn sei diesmal mit anständiger Arbeit beschäftigt.
Hier saß ich nun in einer verlassenen Moschee und wartete auf eine Gruppe mit Leuten wie mir.
Prima.
Der Imam kam zu mir und machte mir ein Zeichen, ihm in einen kleinen Saal neben dem Gebetsraum zu folgen. Am Tisch saßen ein paar junge Männer, die mich gemeinsam im Chor formell begrüßten.
Alles Jungs aus der Gegend, man könnte sagen, die Guten vom Viertel, die Crème de la Crème.
Für sie existierte nur ein einziger gradliniger Parcours: Schule-Moschee-Arbeit-Moschee.
Für die Mutigeren unter ihnen sogar Familie-Arbeit-Moschee.
Als leuchtendes Vorbild wies meine Mutter oft auf den Sohn von Si Chaib hin, auch er befand sich an diesem Abend in dem Raum. Wenn wir uns wieder einmal stritten oder, besser gesagt, wenn sie mir wieder einmal die Leviten las, weil ich noch immer keine
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