Ueber die Liebe und den Hass
Arbeit hatte und ihrer Meinung nach mein Leben vertrödelte, sagte sie: »Weshalb nimmst du dir nicht den Sohn von Si Chaib zum Vorbild? Der arbeitet, ist verheiratet und verpasst nie ein Freitagsgebet in der Moschee! Und er ist jünger als du!«
Es war immer schmerzhaft, diesen Vergleich ertragen zu müssen. Es war immer schmerzhaft, aus dem Munde der eigenen Mutter hören zu müssen, dass ihr eigentlich der Sohn von Si Chaib viel lieber gewesen wäre.
Dass sie, falls möglich, keine Sekunde zögern würde, mich gegen diesen schleimigen Musterknaben einzutauschen.
Einziger Effekt dieser eigenartigen psychologischen Vorgehensweise meiner Mutter war, dass ich den Sohn von Si Chaib hasste. Ich hätte ihn in der Luft zerreißen können, obwohl ich den Jungen nur vom Sehen kannte und er mir nie etwas zuleide getan hatte.
Wie zu vermuten, war von Redouan und Hafid keine Spur. Die fuhren zu dieser Tageszeit wahrscheinlich gemütlich in der Gegend herum, in der Hoffnung, irgendwo ein paar Mädels aufreißen zu können.
Ich hingegen saß hier, in diesem von Heiligkeit stickigen Saal, und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Alle taten enorm wichtig und weihevoll. Keiner lachte. Die mâschallâhs und alhamdulillahs nahmen kein Ende. Sogar wenn sie sich diskret räusperten, murmelten sie etwas Sakrales. Die Erlaubnis, sich räuspern zu dürfen oder so, ein Stoßgebet, damit das Räuspern ein gutes Ende nahm, oder was weiß ich. Ich weiß nur, dass sie mir ziemlich schnell auf die Nerven gingen, aber ich blieb brav dort hocken, denn ich wollte sehr gern jemand werden und was lernen.
Der Imam sprach von der Notwendigkeit, uns als Gemeinschaft zu organisieren. Über das Bündeln unserer Talente und Kräfte, um weiterzukommen.
Über die Wichtigkeit der Erziehung unserer Kinder.
Natürlich hatte er recht, doch wie macht man das? Unsere Gemeinschaft war wie eine Flasche Quecksilber, die auf der Straße zersprungen war. Aberhundert kleine Kügelchen waren in alle Richtungen gerollt. Einige sammelten sich in einer Kuhle, aus der sie nicht mehr herausfanden. Andere hatten mehr Glück, sie rollten einander entgegen und bildeten somit eine kleine Insel, was sehr angenehm zu sein schien. Der wahre Pechvogel landete einfach in der Gosse.
Ein Junge, der mir von irgendwoher bekannt vorkam, den ich aber nicht einzuordnen wusste, sagte während der Diskussion kein einziges Wort, aber ich sah, wie er konzentriert zuhörte, was die anderen erzählten.
Eigentlich war es sogar ein interessantes Treffen. Es kam nichts Konkretes dabei heraus, aber wir konnten miteinander reden, und ein bisschen träumen hat noch nie geschadet.
Und ich wurde allmählich bekannt als derjenige, der während des Idd das Opfer ausüben würde.
In dem Moment, als ich gerade das Gefühl hatte, der Imam wolle uns zu verstehen geben, wir könnten gehen, richtete er das Wort an mich, und alle sahen sie mich an.
»Rachid, könntest du dir vorstellen, beim Freitagsgebet eine Beschreibung des Opferfestes zu bringen?«
Unerwartete Fragen sind unglaublich schwierig zu beantworten. Ich würde einen furchtbar schlechten zufälligen Kandidaten abgeben, wenn zum Bespiel auf der Straße ein Mann plötzlich vom Fernsehen für die Abendnachrichten interviewt wird. Ein dickes Mikro vor der Nase und Fragen wie: »Was sagen Sie als Bürger zu den Beschlüssen des Ministers, dieses oder jenes zu tun …« Mit hundertprozentiger Sicherheit eine Blamage, live im ganzen Land ausgestrahlt.
»Ich?«, fragte ich erstaunt, um etwas Zeit zu gewinnen. Schweigend sahen sie mich alle an.
Gleich nach dem Schlachten von Tieren ist das Sprechen vor der Öffentlichkeit ungefähr das Schwierigste, was man sich vorstellen kann. Und ich hatte keine der beiden »Disziplinen« jemals erlernt.
»Ich fürchte, dazu reicht mein Arabisch nicht aus.« Ich war stolz auf mich, dass ich diese Eingabe so schnell gehabt hatte, und diesmal entsprach es sogar der Wahrheit.
»Es soll vor allem für die Jüngeren sein, Niederländisch wäre also ideal. Es muss nichts Kompliziertes sein, nur ein paar Erläuterungen des Rituals.«
Ich konnte nicht mehr schlafen. Innerhalb einer Woche erwartete man von mir, dass ich einen Vortrag vor den Moscheegängern hielt, und ein paar Tage darauf auch noch, von Hand zu schlachten. Redouan und Hafid konnten mir in solchen Momenten keine Hilfe sein. Seitdem sie mitbekommen hatten, zu was ich verpflichtet worden war, machten sie jedes Mal, wenn sie mich sahen, die
Weitere Kostenlose Bücher