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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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tausendfachem Dank überschüttet. Möge Gott, der unsichtbare Gott, ihn, seinen Stellvertreter auf Erden, und seine Nachkommen segnen bis in alle Ewigkeit. Amen.
    Er zwang die Einwohner der Stadt selbst nach den Bürozeiten und während des Wochenendes zu Respekt, weil er sich standhaft weigerte, seine Gemeindeuniform abzulegen. Keiner hatte ihn jemals in einer lockeren Freizeithose oder einem sportlichen Sweatshirt gesichtet. Es ging sogar das Gerücht um, er habe sich auch bei der Hochzeitsfeier seiner Tochter geweigert, sich einen feinen Anzug schneidern zu lassen.
    Petrus Vater hatte ihn schon mal ohne gesehen.
    Ohne auch nur einen einzigen Faden am Leibe.
    Nackt, im Umkleideraum des öffentlichen Badehauses.
    Er war verwundert gewesen, den Mann, der vorgab, so wichtig zu sein, dort an diesem Ort in seiner wahren Größe anzutreffen.
    Mickrig.
    Als könnte der Angestellte die Gedanken von Petrus Vater lesen, hatte er in diesem Moment schnell nach einem fadenscheinigen Handtuch mit dem Logo der kommunistischen Partei gegriffen, um damit seine Scham zu bedecken.
    Doch auf verblüffende Weise unterstrich das Handtuch noch die Mickrigkeit seiner kompletten Erscheinung. Das Logo schien einen roten Blutfleck zu bilden, der auf dem ausgefransten, grauen Handtuch ausgelaufen war.
    In diesem Moment verstand Petrus Vater, was der Beamte eigentlich war: nicht viel mehr als eine verschlissene Reliquie vergangener Zeiten.
    Dennoch eine Reliquie mit Macht. Nichts wies darauf hin, dass die Macht bröckelte, auch wenn die Reliquie recht mickrig ausgefallen war.
    Und deswegen hatte sich Petrus Vater unter Entschuldigungen entfernt und ihm die Chance gegeben, sich ruhig und ungestört seine Uniform wieder anziehen zu können.
    Warum begriffen das diese Esel nicht?!
    Dass die Macht, überall auf der Welt, egal, wie fragil oder kultiviert ihre Erscheinungsform auch sein mochte, ihr Leben immer und überall fest im Griff haben würde und dass die Kunst darin bestand, die Augen offen zu halten und immer die richtige Strategie anzuwenden, um nicht plattgewalzt zu werden.
    Eines Tages standen sie vor der Tür, Petrus Eltern. Das machten sie manchmal, wenn sie gerade in der Gegend waren. Doch diesmal kamen sie, um ihn mitzunehmen. Petru hatte wie ein Baby geheult und sich dabei an seiner Oma festgeklammert. Er wollte sie nicht loslassen, auch nicht, als ihm sein Vater einen glänzenden neuen Ball hinhielt. Seine Oma strich ihm über den Kopf und versuchte ihn zu beruhigen. Es war zu der Zeit gewesen, als sie ihm das Geheimnis der Bunicâlis anvertraut hatte: Großmütterchen, die im Alter immer mehr zusammenschrumpfen und so klein wie Feldmäuschen werden. Ein praktisches Format, das es ihnen ermöglicht, mit ihren Enkeln überallhin zu reisen. »Du hast bereits eine ganze Menge Großmütterchen, die mit dir mitreisen würden, und wenn ich ganz alt werde, dann komme ich auch zu dir.«
    Sie stopfte ihm noch ein paar Leckereien in den Rucksack, küsste ihn auf die Stirn und ließ ihn gehen. Und es stimmte, was sie ihm erzählt hatte. Bereits in der ersten Nacht, als er in dem fremden Haus schlief, mit seinem fremden Vater und seiner fremden Mutter, da erschienen die Bunicâlis. Er saß auf der Toilette, als er plötzlich, in einem Spalt in der niedrigen Zimmerdecke, ein kleines schrumpeliges Bunicâli entdeckte. »Guten Tag, Petru«, war das Erste, was es sagte, und dabei strich es sich den Staub von den Kleidern. Schon bald kamen noch mehr von ihnen. Sie erzählten ihm wunderbare Geschichten von längst vergangenen Zeiten, von den Heldentaten der Vorfahren, sie brachten ihn zum Lachen und vertrauten ihm uralte Roma-Geheimnisse an. Und überall, wohin Petru zusammen mit seinen Eltern ging, folgten sie ihm. Selbst als sie mehrere Landesgrenzen passiert hatten, waren sie ihm gefolgt.
    Seine Eltern schliefen noch, als er sich aus dem Haus schlich. In der Hosentasche hielt er den Zehneuroschein fest umklammert. Sein Vater würde schnell bemerken, dass in seinem Portemonnaie Geld fehlte, doch Petru wusste, dass seine Empörung nicht viel weiter als bis zu einem enttäuschten »Hättest du mich nicht einfach darum bitten können?« gehen würde. Petru fühlte sich unbehaglich, weil er seine Eltern nicht in seine Pläne eingeweiht hatte. Sie würden vor Sorge wahnsinnig werden. Der Tag war noch nicht angebrochen, und er musste lange auf den Bus warten. Als er einstieg, sah er hinten im Bus ein blasses Mädchen, das dort zusammengekauert saß,

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