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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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aber es passierte nichts.
    Petru wischte sich die Tränen mit dem Hemdsärmel ab. Draußen war es still. Petru stand auf und suchte einen Gegenstand, um damit die Kacheln von der Wand zu lösen. Außer benutzten Rasierern und einer Zahnbürste fand er nichts Geeignetes. »Eh, Mann, das hat jetzt lange genug gedauert. Komm da heraus.« J. klang versöhnlich.
    Petru stellte sich vor die Tür. »Ich komme nicht heraus. Ich warte hier noch.«
    »Was?«
    »Ich warte hier auf die Bunicâlis.«
    »Warten auf was?«
    »Ich kann jetzt nicht herauskommen.«
    »Willst du wirklich, dass ich die Polizei rufe?«
    Petru klappte den Toilettendeckel hinunter und setzte sich darauf.
    »Müsstest du eigentlich nicht schon längst in der Schule sein, Kleiner? Die Bullen kennen bei Schulschwänzern kein Pardon.«
    »Ich habe keine Schule.«
    »Ja, na klar. Türken brauchen nicht zur Schule.«
    »Ich bin kein Türke.«
    »Ist doch egal.«
    »Ich bin Roma, und der Schuldirektor hat Angst, wir könnten etwas im Blut haben, weswegen wir bei Nacht und Nebel verschwinden, und deswegen dürfen wir nicht in seine Schule.«
    J. antwortete nicht sogleich.
    »Weil ihr Zigeuner seid?«
    »Roma. Wir sind Roma.«
    »Okay, Roma. Und wann kommst du jetzt aus meinem Badezimmer wieder heraus?«
    Petru warf wieder einen Blick auf den Riss in der Wand.
    »Ich warte auf meine Bunicâlis.«
    »Buni was?«
    Petru ließ sich vor der Badezimmertür nieder.
    »Bunicâlis, meine Großmütterchen.«
    »Großmütterchen in meinem Badezimmer, bist du …« J. vollendete den Satz nicht. Petru hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Kurz darauf kam er wieder zurück. Und dann kauerte auch J. sich dicht an die Tür.
    »Und wie sehen diese Bun’kalis aus?«
    »Bunicâlis«, verbesserte Petru ihn. »Sie sind nicht groß, ungefähr so groß wie eine Maus.« Er beschrieb, wie sie angezogen waren, welche Farbe ihre Augen hatten und wie viele Falten auf ihren Gesichtern erschienen, wenn sie lachen mussten. Die ganze Zeit, während Petru erzählte, hörte er auf der anderen Seite der Tür ein sanftes Geschabe.
    J. unterbrach Petru kein einziges Mal.
    »Was machst du?«
    J. antwortete, indem er ein Blatt Papier unter der Tür hindurchschob. Petru nahm es und sah zu seiner großen Überraschung seine Bunicâlis vor einem gekachelten Hintergrund. J. hatte sie fast haargenau getroffen. Die runden Gesichtchen, die funkelnden Augen, sogar die Falten in der Kleidung wirkten echt.
    J. schob ein weiteres Blatt unter der Tür hindurch, auf dem ein dünner Junge abgebildet war, der sich mit einem Bunicâli unterhielt.
    »Bin ich das?«
    »Yep, stimmt es so?«
    »Er ist ziemlich mager.«
    »So siehst du in Zeichentrickfilmen aus.«
    Petru nahm die Zeichnung in die Hand und betrachtete sie ausgiebig. »So dünn bin ich nicht«, sagte er entschieden und schob die Zeichnung wieder unter der Tür hindurch. Das Blatt mit den Bunicâlis behielt er.
    »Ich berufe mich da auf meine künstlerische Freiheit.«
    Er hörte J. kichern.
    »Wenn du möchtest, dass ich dich so zeichne, wie du bist, dann musst du herauskommen, damit ich dich genauer unter die Lupe nehmen kann. Und wie gefallen dir die Großmütterchen?«
    Petru konnte sich nicht von dem Blatt lösen. Es war, als würden sie dort vor ihm sitzen, versammelt in seinen Händen.
    »Kommst du jetzt raus? Jetzt muss ich nämlich mal dringend auf die Toilette, echt wahr, das ist kein Trick oder so.« Petru erhob sich langsam und öffnete die Tür. J. saß noch immer auf dem Boden, mit einem großen Zeichenblock auf den Knien und einem schwarzen Bleistift in der Hand.
    »Endlich, Mann.« J. flitzte ins Badezimmer. Ohne die Tür zu schließen, stellte er sich vor die Toilette und pinkelte.
    Petru machte selbst die Tür zu und verzog sich ins Wohnzimmer.
    Dort sah er, dass der Esstisch mit Skizzen übersät war. Überall auf dem Boden lagen zerknäulte Papierbälle. Auch die Zimmerwände waren komplett mit seltsamen Zeichnungen und Fotos bedeckt.
    »Ich bin Jasper.«
    Petru drehte sich um. Jasper hielt ihm eine ausgestreckte Hand hin.
    »Ich bin …«
    »Petru, ja, das hast du bereits gesagt. Möchtest du etwas trinken?«
    »Nein.«
    »Wie seltsam, diese Geschichte mit den Bunicâlis. Glaubst du etwa auch noch an den Nikolaus?«
    Petru schnitt eine Grimasse.
    »Wie alt bist du?«
    »Elf. Und den Nikolaus gibt es nicht. Er hat mir noch nie ein Geschenk gebracht.«
    Jasper öffnete den kleinen Kühlschrank und nahm sich eine

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