Ueber die Liebe und den Hass
reingehen, schnell Furkan suchen und ihn mitnehmen, bevor die Erzieherinnen etwas bemerkten.
Um zehn vor fünf stand ich vor der Kinderkrippe. Mit vorgetäuschtem Selbstbewusstsein ging ich hinein, geradewegs zum Spielraum durch. Es waren noch viele kleine Kinder dort.
Die beiden anwesenden Erzieherinnen standen plaudernd an einem Schreibtisch und beachteten mich nicht weiter.
Ich ließ meinen Blick über die Kinderköpfchen schweifen, doch Furkan sah ich nirgends.
Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich bekam feuchte Hände. Plötzlich sah ich einen dunkelhaarigen Jungen, der mit dem Rücken zu mir auf dem Boden saß und spielte. Mein Herz fing wie wild an zu rasen.
»Furkan!«
Ich ging zu ihm, und alles um mich herum verschwamm.
Der Schreibtisch der Erzieherinnen stand in unmittelbarer Nähe des Ausgangs, es würde unmöglich sein, ungesehen den Raum zu verlassen. Doch ich war der festen Überzeugung, dass ich mit Furkan in den Armen einfach hinauslaufen könnte. Gott würde dafür sorgen, dass die Erzieherinnen einen Moment geblendet und bewegungslos wie die Statuen wären.
Ich kniete mich vor den Jungen hin und legte ihm behutsam eine Hand auf das zarte Köpfchen. Ein Kind starrte mich an.
Verzweifelt versuchte ich irgendetwas von Furkan in dem Gesichtchen zu erkennen.
»Wo ist Furkan, mein Kleiner? Zeig mir Furkan.«
Das Kind reichte mir einen Baustein. Ich nahm ihn wortlos und stand wieder auf. Ich sah mich noch einmal um, von links nach rechts. Ich versuchte, die Kinder langsam zu mustern, aber ich wurde immer aufgeregter, und mein Blick hetzte in Höchstgeschwindigkeit über die Gesichter. Furkan war nicht dabei.
Die Erzieherinnen hatten inzwischen ihr Gespräch beendet, und eine von ihnen kam auf mich zu.
»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Ich versuchte irgendetwas zu stammeln, aber ich brachte kein verständliches Wort heraus. Bestürzt lief ich hinaus. Das Taxi wartete noch immer auf mich. Ich stieg ein und bemerkte, dass mir die Knie zitterten und ich kaum atmen konnte.
»Meine Mutter, ich will zu meiner Mutter«, murmelte ich und schob mir nervös eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich versuchte, mich zu beruhigen, doch mein Herz raste wie wild weiter.
»Eine Adresse wäre nicht schlecht, junge Frau.«
Zuerst fiel mir die Straße nicht ein. Mich überkam ein Gefühl der Beklemmung.
Es war doch nicht möglich, dass ich vergessen hatte, wo meine Mutter wohnt! Wie konnte ich die Straße vergessen, in der ich jahrelang gespielt hatte? Die Straße, die ich viermal täglich den Weg zur Schule und wieder zurück gegangen war? Die Straße, in der ich mit meinen Freundinnen Süßigkeiten am Kiosk gekauft hatte?
Dieser Moment des Gedächtnisverlustes zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen, ich war verloren.
Ich fand den Weg nach Hause nicht mehr.
Der Taxifahrer sah mich im Rückspiegel an und wartete.
Ich stürzte derweil in ein tiefes schwarzes Loch, und als ich fast den Boden erreicht hatte, fiel mir die Straße wieder ein.
»Laremanstraat 15.« Ich stieß es wie einen Seufzer aus.
Der Taxifahrer hatte es offenbar nicht verstanden.
»Laremanstraat 15«, wiederholte ich nun lauter.
Wortlos startete er das Taxi.
Dschihab
Drei ganze Zuckerwürfel verschwanden in dem nur halbvollen Plastikbecher mit Kaffee, den der neue Dozent für Französisch vor sich stehen hatte.
Er kam aus dem Kongo.
Sie erschauerte, begrüßte ihn aber dennoch äußerst freundlich. Ihr war schon öfter aufgefallen, dass sozial Benachteiligte, insbesondere aber Ausländer, ihre Getränke übermäßig süßten. Als versuchten sie damit, die Bitternis und Farblosigkeit ihres Lebens zu kaschieren, vielleicht auch zu mildern. Kein Wunder, dass die größten Zuckerkonsumenten und auch -produzenten die Entwicklungsländer selbst waren.
Ihrer Meinung nach bestand ein direkter Zusammenhang zwischen dem Zuckerkonsum und dem Entwicklungsstand eines Volkes. Der Zuckerverbrauch entwickelter Länder sank stetig, und man ging immer mehr zu Süßstoffen über, wie Sacharin oder Aspartam. Wohingegen Entwicklungsländer, insbesondere Afrika, falls es die Mittel dazu hätte, sich als zuckerverschlingender Kontinent entpuppen würde. Zu diesem Schluss war sie nach jahrelanger Beobachtung des Zuckerverbrauchs der Ausländer gekommen, die sie unterrichtete.
Trotz ihrer geringen Existenzmittel war Zucker zu einem leicht zugänglichen Konsumgut geworden, das ihre Ernährung im Übermaß
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