Ueber die Liebe und den Hass
versiegte.
Einen Moment lang glaubte ich, ich würde taumeln, doch ich blieb stehen und bewahrte mein Gleichgewicht. Wieder war ich allein und meinen Ängsten ausgeliefert.
»Deine Mutter träumt jede Nacht von dir, ich werde ihr sagen, dass es dir gutgeht.«
»Ja, Papa, sag ihr das. Sag ihr, dass ich sie vermisse.«
Er schob die Hände in die Jackentaschen und verschwand.
Ich wollte ihm hinterherlaufen, seine Hand nehmen und gemeinsam mit ihm nach Hause gehen. Morgen würde ich in meinem Zimmer aufwachen, und neben mir im Bett würde Furkan liegen.
»Papa! Sag ihr, dass ich sie demnächst einmal besuchen komme.« Er drehte sich nicht mehr um.
Ich blieb stehen und schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu erkennen war, bis meine Augen zu tränen begannen. Er war schon so weit weg, schon so lange außer Sichtweite, das Einzige, was er tun konnte, war umzukehren. Doch er ging weiter, genau wie auch ich nicht wieder nach Hause zurückgekehrt bin.
Der erste Bus des Tages kam angefahren, hielt vor mir an und öffnete die Türen. »Na, junge Frau, wird das heute noch was?«
Folgsam stieg ich ein und setzte mich hinten in den Bus.
Langsam wurde es hell, die Stadt erwachte, anfangs zögerlich, den Schlaf noch in den Gliedern. Vereinzelt ein Mann oder eine Frau, die den einsamen Straßen trotzten, auf dem Weg zur Arbeit. Gedankenverloren schaute ich den Lieferwagen hinterher, die sich in den Verkehr einreihten. Wie sie mit dem Blinker von Fahrbahn zu Fahrbahn wechselten.
An der nächsten Bushaltestelle standen bereits zwei wartende Männer und ein kleiner Junge, höchstens zehn Jahre alt. Ich überlegte, wohin er so früh am Morgen wollte, ganz allein, und wie Furkan mit zehn aussehen würde und ob ich ihn allein mit dem Bus fahren lassen würde. Als er ein paar Haltestellen später ausstieg, sah er mich an. Ich lächelte ihm zu.
Und dann, keine Stunde später, als hätte jemand einen unhörbaren Startschuss abgefeuert, brach das Leben in den Straßen aus.
Als das Treiben etwas nachließ, fuhr der Bus in eine Gegend, die ich nicht kannte. Eine Gegend mit breiten Straßen und schönen stattlichen Häusern. Die ordentlich gepflegten Grünanlagen und die hochgewachsenen Bäume zu beiden Seiten der Straße verleiteten mich dazu auszusteigen.
Es war ein klarer Herbsttag. Ein Tag, der für Gegenden wie diese wie gemacht schien, mit solchen Häusern und solchen Bewohnern.
Blau und friedlich.
Ich kam an einem frei stehenden weißen Gebäude vorbei. Es wirkte viel wichtiger als ein gewöhnliches Haus, und als ich davorstand, erkannte ich die Fassade wieder. Es war das Haus, das ich vor ein paar Wochen gesehen hatte, auf der Website des Bischofs.
Ein Haus im klassizistischen Stil, das 1944 bei einem Luft angriff von einer Bombe getroffen wurde, so war es dem Text auf der Website neben dem Foto zu entnehmen. Ich konnte mir nicht so recht vorstellen, dass eine Bombe auf dieses Gebäude gefallen sein sollte. Es sah trotz allem solider und unendlich viel schöner aus als die Wohnungen, die ich während der vergangenen Jahre bewohnt hatte.
Ich hatte Lust, dort zu klingeln und zu fragen, ob ich den Bischof sprechen könne. Ihn zu fragen, wozu der ganze Prunk gut sei, wenn er noch nicht einmal dazu befähigt schien, Verfügungsgewalt bei Glaubensangelegenheiten zu haben. Trennung von Kirche und Staat, sagte die Jugendrichterin. Die Kirche befand sich zweifellos außerhalb des Staates, doch der Staat befand sich mitten im Herzen der Kirche. Ich wendete mich von dem Haus ab. Ich wollte schnurstracks zur Kinderkrippe gehen und Furkan einfach mitnehmen. Ich würde für ein paar Tage irgendwo untertauchen, um dann dieses Scheißland zu verlassen, für immer.
Es hatte keinen Sinn, noch weiter Regeln zu respektieren, die unredlich und unmenschlich waren, die einen so demütigten. Die einen daran hinderten, so zu sein, wie man war. Ich existierte hier nicht, und Furkan konnte nur in der Form und unter den Bedingungen existieren, wie sie ihm von ihnen vorgegeben wurden. Von nun an sollten sie alle auch nicht mehr für mich existieren. Das Einzige, was zählte, war Furkan und meine Liebe für ihn.
Ich war fest entschlossen. Niemand konnte mich zurückhalten.
Es war halb fünf. Ich rief mir ein Taxi, sonst würde es mir nicht gelingen, vor den Pflegeeltern in der Kinderkrippe zu sein.
Als das Taxi kam, beschloss ich, es bei der Kinderkrippe warten zu lassen, damit ich schneller mit Furkan von dort verschwinden konnte.
Ich würde
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