Ueber die Liebe und den Hass
bestimmte.
Zucker war das Gold ihrer Küche. Das muss mit ihrer Kultur zusammenhängen, dachte sie.
Mit dem Zucker schienen sie ihren Erfolg demonstrieren zu wollen, ihren kürzlich erworbenen Wohlstand. Je süßer ihre Getränke und Speisen, desto wohlhabender waren sie. Ein Gradmesser für oberflächliches Glück, alles nur schöner Schein, sonst nichts.
Da war es auch nicht weiter verwunderlich, dass einige daraus sogar ein echtes Fest machten, überlegte sie.
Sie nahm nie Zucker, weder im Kaffee noch im Tee. Schon öfter hatte sie diesen marokkanischen Tee probiert, den sie ohnehin überschätzt fand. Das letzte Mal war vor zwei Jahren gewesen, während der Abschiedsfeier, die ihre Studenten für sie organisiert hatten. Sie wollten sich damit für ihr Engagement bedanken und für alles, was sie ihnen beigebracht hatte. Eine Geste, die ihr zeigen sollte, dass sie nicht einfach irgendjemand war, der sie unterrichtet hatte, sondern jemand, der ihnen behilflich gewesen war, einen Weg im Leben zu finden.
Für sie war es fast eine Selbstverständlichkeit, dass ihre Studenten sie auf Händen trugen, denn jeder einzelne von ihnen hatte aus den verschiedensten Gründen den richtigen Weg aus den Augen verloren. Manchmal fiel ihr dazu der Vergleich mit einem Kahn ein, der, sobald er den Hafen hinter sich ließ, auf unruhiger und unbekannter See ins Kentern geriet. Ihr Verdienst bestand darin, ihnen einen Kompass zu geben. Sie zeigte ihnen, wie sie weiterkommen konnten. Allerdings hatte sie damit gerechnet, dass das alles irgendwann einmal aufhören würde und eines Tages keine Orientierungs- und Einbürgerungsveranstaltungen mehr stattfinden müssten, aus dem ganz einfachen Grund, weil niemand mehr an Land geschwemmt wurde. Sie konnte diese Arbeit nicht bis in alle Ewigkeit so weitermachen, es laugte sie aus.
Sich einfach nur zu verabschieden oder eine simple Feier kam für sie nicht in Frage. Bei ihnen musste alles mit viel Überschwang und Übermaß passieren. Die Leichtigkeit, mit der sich ihre Studenten untereinander anfreundeten, hatte sie immer wieder verblüfft. Weder Sprache noch Herkunft schienen für sie eine Barriere darzustellen. Ihre Fremdartigkeit erfuhren sie als etwas Gemeinsames, und sie verbrüderten sich nach Herzenslust. Jedem Unterrichtstag ging eine ausführliche Begrüßungszeremonie voraus, wobei Küsse und Umarmungen nicht fehlen durften. Sogar ihre Gestik war von einer widerlich süßen Klebrigkeit, die nahezu fühlbar war. Körperlichkeit hatte ihr schon immer Unbehagen bereitet, egal ob ihr Körper dabei in die Rituale des Anfassens, Streichelns, Betastens, Ansichdrückens und Küssens einbezogen wurde oder nicht.
»Körperlichkeit ist des Teufels«, hatten ihr die Nonnen im Internat immer weisgemacht. Und als kleines Mädchen hatte sie sich stark von diesen mantraartig wiederholten Meinungen beeindrucken lassen.
Später löste sie sich dann mit Leichtigkeit und ohne Gewissensbisse von Gott und den Geboten. Doch tief in ihrem Inneren sandten diese Mantras ein beständiges, kaum wahrnehmbares Signal aus. Wie eine Funkbake: Einmal installiert, sandte sie ohne großen Energieaufwand verlässlich und in regelmäßigen Zeitabständen für alle Ewigkeit Signale an die Oberfläche.
Sogar als außenstehendem Betrachter konnte es einem manchmal von diesem barocken Umarmungsspektakel, das sich täglich in ihrem Unterrichtsraum vollzog, ganz übel werden. Es ärgerte sie jedes Mal maßlos, dass sie erst verspätet mit dem Unterricht beginnen konnte.
Ihr waren auch die riesigen Zuckerberge für das Fest aufgefallen. Selbstgebackene Kekse und Torten, Gebäck in allen Farben und Formen, Schokolade und sonstige Zuckergebilde.
Als einer ihrer Studenten ihr ein Glas dampfenden Tee hinhielt, konnte sie aus Anstand nicht ablehnen und musste wenigstens daran nippen.
Der Dampf, der ihr sogleich in die Nase stieg, verhieß bereits nichts Gutes. Ein sirupartiger Zuckerdunst ging dem scharfen Minzegeruch voran.
Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, aber sie trank dennoch einen Schluck, weil alle sie erwartungsvoll anstarrten.
Offenbar war es nicht genug, dass sie die Studenten ein ganzes Jahr lang begleitet, befragt und schließlich in den einzelnen Fächern, die sie gab, beurteilt hatte. Nein, sie musste ihnen auch noch beifällig zunicken, nachdem sie von ihrem Tee gekostet hatte.
Als ob sie ihnen damit zeigen würde, dass sie sich da draußen in der Welt gewiss bewähren würden, weil sie so
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