Ueber die Liebe und den Hass
zur Hand. In den Händen hielt sie das Profil einer engagierten und intelligenten jungen Frau. Es gelang ihr nicht, die Information auf dem Papier mit der unsicheren Frau mit dem Kopftuch im Wartezimmer in Einklang zu bringen. Schnell überflog sie die Daten, vielleicht hatte sie etwas übersehen.
Frau Amal Hayati, 32 Jahre.
Mutter, zwei Kinder.
Geschieden.
Schulabschluss an der Technischen Realschule, Führerschein Klasse B, gutes Niederländisch, Französisch, Englisch und Basiskenntnisse Deutsch.
Belgische Staatsangehörigkeit.
Hobbys: Schwimmen und Lesen.
Acht Jahre hatte sie in einem multinationalen Konzern gearbeitet, zunächst als Rezeptionistin, dann als Chefsekretärin. Danach hatte sie zwei Kinder bekommen und war zwei Jahre in Elternzeit gegangen. Zu ihrem früheren Arbeitsplatz war sie nicht mehr zurückgekehrt. Stattdessen hatte sie mehrere Zusatzausbildungen und Spezialisierungen absolviert.
Und nun hatte sie erfolgreich die Zulassungsprüfung für die Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten erlangt.
Um 9:35 h rief sie die Direktorin der Einrichtung an.
Es war das erste Mal, dass sie es mit einer Frau mit einem Kopftuch zu tun hatten.
Es gab keine Regeln, wie man sich in einem solchen Fall zu verhalten hatte, doch für beide Frauen stand sofort fest, dass Studentinnen mit einem Kopftuch nicht den Zielen und der Philosophie ihres Unterrichtszentrums entsprachen. Eine Philosophie, die keine der beiden Frauen in diesem Moment hätte darlegen können. Doch sie empfanden beide, dass ein Kopftuch nicht in ihre Einrichtung passte, und instinktiv wollten sie sich davor schützen.
Die Direktorin schlug vor, dass man dennoch mit der Bewerberin sprechen sollte, ihr aber sehr deutlich machen müsse, dass das Tragen eines Kopftuches nicht möglich sei. Dass es nicht mit den Grundregeln der Neutralität in Einklang zu bringen sei, die sie alle hier vertraten.
Sie selbst sah allerdings keinen Sinn mehr darin, das Bewerbungsgespräch noch stattfinden zu lassen.
Ihr Blick richtete sich bereits in die Zukunft, über dieses eine Ausbildungsjahr hinaus. Arbeitgeber, die bereit wären, eine Frau mit einem Kopftuch einzustellen, waren rar, und dann setzte sich das Problem immer weiter fort. Ihr war bewusst, dass dieses Problem auch die Grundlagen ihrer Gesellschaft berührte.
Das Kopftuch bedeutete in ihren Augen einen unübersehbaren und riesigen Schritt zurück von all dem, woran sie als moderne und unabhängige Frau glaubte.
Es wäre also äußerst naiv, wenn man der Frau die Möglichkeit bieten würde, die Ausbildung ohne Kopftuch hier zu absolvieren, und sie danach wieder mit Kopftuch auf den Arbeitsmarkt losließe.
Die Direktorin verstand ihre Sichtweise durchaus, doch sie befürchtete juristische Folgen, wenn die Einrichtung der Bewerberin keine Alternative anbot.
Um 9:50 h legte sie den Hörer auf.
Sie konnte wirklich nicht verstehen, warum einige Frauen sich heutzutage noch an archaische Gebräuche hielten.
Punkt 10:00 h ging sie zum Wartezimmer, um die Frau zu holen. Frau Hayati folgte ihr und setzte sich schweigsam.
Während sie die Bürotür schloss und zu ihrem Stuhl ging, fiel ihr ein, dass sie sich für die Stunde Warterei entschuldigen müsste, doch sie brachte kein Wort der Entschuldigung über die Lippen. Zu sehr verwirrte und entsetzte sie das unerwartete Kopftuch, das ihr den kompletten Morgen und wahrscheinlich auch den Rest des Tages vollkommen durcheinandergebracht hatte. Dann spürte sie eine seltsame Streitlust in sich aufkommen. Vielleicht gelang es ihr ja, heute noch etwas Positives zu tun, vielleicht gelang es ihr, einen Beitrag zu einer Welt ohne Unterschied zu leisten, einer Welt ohne Klassen und ohne männliche Überlegenheit.
»Ihr Testergebnis ist ausgezeichnet.« Sie öffnete die Mappe. »Ich verstehe jedoch nicht ganz, wieso Sie nach der Elternzeit nicht wieder zu Ihrem alten Arbeitgeber zurückgekehrt sind.«
Die Frau mit dem Kopftuch sah sie mit einem Lächeln an.
»Nach der Geburt meines ersten Kindes traf ich die Entscheidung, zukünftig ein Kopftuch zu tragen. Ich fühlte mich dazu innerlich bereit. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass mein Arbeitgeber ein solches Theater veranstalten würde, da er zuvor über meine Arbeit immer voll des Lobes gewesen war. Mir hat die Arbeit auch sehr gefallen. Sie bot Aufstiegsmöglichkeiten, und ich war natürlich zutiefst enttäuscht, als es plötzlich keinen Platz mehr für mich dort zu geben schien. Es war
Weitere Kostenlose Bücher