Ueber die Liebe und den Hass
guten Tee zubereiten konnten. Doch wenn sie den Mut dazu gehabt hätte, dann hätte sie ihnen ihre Theorie über die umgekehrte Relation von Zuckergenuss und der Entwicklung eines Volkes erörtert.
Sie trank einen Schluck.
Bis heute weiß sie nicht, woran sie sich ihre Zunge verbrannt hat, an der heißen Flüssigkeit oder dem widerlich hohen Zuckergehalt. Eins stand danach für sie jedoch fest: Nie wieder würde sie ein Getränk von jemandem annehmen, der sich nicht auf derselben sozialen Stufe wie sie befand.
Inzwischen hatte sie einen neuen Job bei einer renommierten Bildungseinrichtung, und sie hatte gelernt, dass man deutlicher sein musste. Das war sie den Studenten schuldig.
Der Dozent für Französisch verließ mit einem zufriedenen Lächeln das Büro. Den leeren Becher ließ er auf dem Tisch zurück. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und kontrollierte den Becherboden. Wie vermutet, lag dort ein glänzender, feuchter Zuckerbrei. In einem halben Becher Kaffee konnten sich unmöglich drei Zuckerwürfel ganz auflösen, dachte sie und nahm ihren ungesüßten Kaffee mit an ihren Schreibtisch.
Eine Woche vor Beginn des neuen Lehrjahres war sie vollauf mit Bewerbungsgesprächen der Kandidaten beschäftigt, die den schriftlichen Teil der Zulassungsprüfung erfolgreich bestanden hatten. Als sie am Wartezimmer vorbei zu ihrem Büro ging, hatte sie gesehen, dass dort eine Frau mit einem Kopftuch saß.
Ihre erste Kandidatin erwartete sie erst in einer Viertelstunde. Sie hatte noch genügend Zeit, den Computer hochzufahren und ihren Kaffee zu trinken.
Gerade als sie damit beschäftigt war, ihre Termine durchzugehen, kam die Sekretärin ins Zimmer und teilte ihr mit, dass die erste Kandidatin bereits eingetroffen sei.
Es war zehn Minuten vor neun. Punkt neun stand sie auf und ging ins Wartezimmer. Außer der Frau mit dem Kopftuch befand sich niemand im Raum.
Die Frau mit dem Kopftuch wirkte leicht angespannt, aber sie grüßte sie. Sie grüßte zurück und verließ darauf das Zimmer.
Im Sekretariat war niemand. Sie nahm den Kalender mit den eingetragenen Terminen und sah, dass unter ihrem Namen der Name der Kandidatin stand und daneben die Zeit ihres Eintreffens: »Amal Hayati, 8:40 h«.
Sie wird doch nicht etwa wieder gegangen sein, dachte sie kurz. Das wäre schade, denn ihrer Bewerbungsmappe nach schien sie eine ausgezeichnete Studentin zu sein. Sie hatte mit glänzenden Noten verschiedene Ausbildungen absolviert, sie war stets pünktlich, und die Dozenten waren voll des Lobes über sie. Diese Kandidatin schien ganz klar nicht das Abenteuer zu suchen, und sie wusste aus Erfahrung, dass der Erfolg eines Lehrjahres oft von ein oder zwei Studenten in der Gruppe abhing, die ein Vorbild für die anderen abgaben. Das Niveau und das Tempo wurden gesteigert, wenn es ein paar herausragende Studenten gab, sie halfen den anderen weiterzukommen.
Das Gespräch mit dieser Kandidatin war eigentlich nur eine Formalität. Sie klebte ein Post-it mit der Frage »Wo ist Frau Hayati?« auf den Computerbildschirm der Sekretärin und kehrte wieder in ihr Büro zurück. Als sie an dem Wartezimmer vorbeikam, spürte sie, dass die Frau mit dem Kopftuch kurz zu ihr aufschaute. Sie ging weiter, ohne sie anzusehen.
Kurz darauf rief die Sekretärin an, um ihr mitzuteilen, dass Frau Hayati noch immer im Wartezimmer sitze.
Um Viertel nach neun ging sie erneut zum Wartezimmer. Und wieder sah sie außer der Frau mit dem Kopftuch niemanden im Raum.
Leicht verärgert ging sie weiter ins Sekretariat.
Die Sekretärin telefonierte.
Im Flüsterton und mit Gebärden fragte sie, wo denn Frau Hayati sei.
Die Sekretärin machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm und zeigte zum Wartezimmer, danach fuhr sie sich mit der Hand über den Kopf und dann seitlich an den Schläfen entlang hinunter zum Kinn, wo sie die Hand schließlich zu einer Faust ballte und dort ruhen ließ, während sie der Person am anderen Ende der Leitung erklärte, welche Bewerbungsunterlagen sie bis zu welchem Termin abzugeben habe.
Einen Moment war sie irritiert.
Sie beschloss, schnell zurück in ihr Büro zu gehen, zögerte dann aber, da sie zwangsläufig am Wartezimmer vorbeimusste. Sie würde einfach schnell durchlaufen und ja nicht ins Zimmer schauen, wenn sie daran vorbeikam.
Trotz ihres Tempos spürte sie erneut, dass die Frau aufgeschaut hatte.
Als sie sicher in ihrem Büro angekommen war, schloss sie die Tür und nahm sich erneut die Mappe von Frau Hayati
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