Ueber die Verhaeltnisse
Schnaps braucht, umihn zu trüben. In der Stille seines Archivs schreibt Edvard noch immer Gedichte, auf polnisch, obwohl er schon als junger Mann ins Land gekommen ist. Borisch versteht sie nicht, aber wenn Edvard sie ihr vorliest, ist sie gerührt vom traurigen, tiefen Klang.
Heimlich hat sie welche übersetzen lassen, aber außer ein paar merkwürdigen Gedanken ist nichts dabei herausgekommen. Ähnlich war es ihr ergangen, als sie Gedichte ihres Lieblingsdichters, Endre Ady, auf deutsch gelesen hatte. Nichts von dem, was ihr daran gefiel, war übriggeblieben. Ihren Kindern hat sie sie auf ungarisch eingebleut, aber wenn die sie dann mit ihrem unglückseligen Akzent herunterratterten, war ihr nach Tränen zumute gewesen.
Im Grunde sieht Borisch einen echten Anachronismus darin, daß auch sie und Edvard, dem Sog dieser Stadt nachgebend, deutschsprachige Bürger eines Kleinstaates gezeugt haben, die nichts Besseres im Sinn haben, als die alten Zusammenhänge so rasch wie möglich zu vergessen. Und sie bekennen sich auch noch zu diesem Staat, als schütze sie dieses Bekenntnis vor jeder weiteren Stellungnahme. »Zu bereitwillig«, sagt sie zu Edvard, »werfen sie unsere durchkämpften und durchlittenen östlichen Jahrtausende auf den Misthaufen, so als ginge sie das alles nichts an.« Darauf braucht Edvard einen Wodka.
»Was willst du? Daß ausgerechnet unsere Kinder Zeugnis ablegen? Es ist eine gemischte Welt. Noch können sie anwachsen, wo sie wollen. Wenn sie erst einmal festsitzen, holt die Geschichte sie zwangsläufig ein.« Borisch kann sich noch immer nicht beruhigen.
»Aber daß sie sich so gar nicht interessieren!« Edvard schenkt auch Borisch einen Schluck ein.
»Sie interessieren sich nicht, aber es wird sie interessieren. Laß sie erst irgendwo den Fuß in der Tür haben. In dem Augenblick fängt die Erinnerung an.« Und Borisch trinkt in diesem Fall mit.
Er hat seine Ideen nicht verraten, aber die Ideen verraten ihn. Er will eine vernünftige Politik machen, für seine Freunde, für alle, für das Land.
Noch schnurren die alten Säbelzahntiger, wenn er sie streichelt, aber mit ihrem Heulen haben sie das ganze orientierungslose Rudel angesteckt. Was wollen die denn von ihm? Sehen sie nicht, daß er seine ganze Kraft investiert? Der eigene olympische Klüngel ist es, der ihn peinigt. Einer nach dem anderen drohen sie mit der Sprengung des Lagers. Das bedeutet den Verlust der Autorität, nicht zuletzt seiner, und das heißt in der Tat das Chaos.
Er ist nicht von ungefähr der geworden, der er ist, und hat die Hierarchie am eigenen Leib erfahren. Laß die Zügel locker – und die Affen springen in die Bäume. Lockerer geht nicht. Ohne Bekenntniszwang und Einflußdisziplin läßt sich nichts ausüben. Die häufig strapazierte Illusion, man könne über alles miteinander reden, irritiert ihn. Lauter Blender, die das Palaver forcieren, und anderntags lesen sie in der Zeitung nach, wie sie im Fernsehen waren.
Warum hat er es sich denn nicht verdrießen lassen, Erfahrung und Ämter zu sammeln, wenn die Kläffer es besser wissen? Keine Ahnung, das ist es, was sie so volksgewinnend daherreden läßt. Und alle wollen sie was. Daß die Luft besser wird, der Wald überlebt und die Großmächte abrüsten. Ist er denn ein Zauberer, daß er nur mit dem Finger zu schnipsen braucht? Und warm wollen sie es auch alle haben undbequem, und besser soll es werden, und frei wollen sie sein, und die Südafrikaner sollen die Apartheid aufgeben.
Und weil er das alles nicht auf einmal zuwege bringt, wollen sie es selber machen. Ja, wo kommen wir denn da hin? Wenn jeder glaubt, er kann in der Politik herumpfuschen? Das ist eine Sache für Profis, beinharte und zählebige.
Das ein oder andere würde er sich gerne vorhüpfen lassen von diesen Laiendarstellern. Die ganz Gefinkelten reden auch noch vom Charisma. Was braucht er Charisma? Das Amt und die Mittel entscheiden, nämlich die tatsächlichen, und nicht ob einer sich als mit allen Wassern gewaschen fühlt.
Dieses Gerede vom Umstrukturieren führt zu gar nichts. Um die bestehenden Strukturen ist hart gekämpft worden, im sogenannten Heldenzeitalter. Darum müssen sie auch bestehen bleiben. Und das werden sie auch, solange er an der Spitze ist. Und wenn die noch lange herumgockeln, wird er durchgreifen müssen. Nicht einmal vor ihm genieren sie sich. Ein Mann – eine ganze Körperschaft, das ist die Losung. Und er erwartet von sich, daß er dieser Maxime wieder Geltung
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