Ueber die Verhaeltnisse
in Wortbonbons gefüllten Sarkasmen zirpten durch die rauchblau gewölkte Luft.
Was haben die wohl vor dreißig Jahren gemacht? dachte Borisch. Ob sie gesessen sind oder in ihren demolierten Wohnungen interniert waren? Vielleicht aber sind sie zu Kreuz gekrochen, kurzfristig, wie das Leben so spielt, Heldentum läßt sich von niemandem einfordern. Oder doch? Jetzt saßen sie jedenfalls da und riefen einander »süßer, guter Ede« und »meine reizende Ilona« zu. Es ging ihnen also gut, egal, was sie vor dreißig Jahren gemacht oder nicht gemacht hatten.
Und wie ein Sägeblatt fraß sich der Gedanke durch Borisch hindurch, daß es ihr nun vielleicht auch gutginge, hier und heute, wenn sie den Mut nicht verloren hätte damals. Was waren schon ein paar Monate Gefängnis, wenn man sie heil überstanden hatte? Die Erinnerung an die eigene Fähigkeit zum Widerstand, ein Trotzdem-Fest der Vergangenheit und der Selbstachtung jenseits aller Demütigungen. Oder nicht? Aber wer sagt, daß sie es heil überstanden hätte, daß es nur ein paar Monate gewesen wären? Der Wiederaufbau – das Zauberwort. In seinem Namen waren ganze Generationen auf den Galeeren– nicht nur hier. Aber hier hätte sie sich dafür verantwortlich gefühlt, für den Wiederaufbau und die neue Ordnung. Es gab zwei grundsätzliche Möglichkeiten, einem Umbruch dieser Art zu begegnen, als Märtyrer oder als Zyniker. Beide Haltungen waren ihr gleich fremd. Sie wollte leben mit dem Recht, aufzubegehren, wenn der Strick, an dem man hing, zu eng wurde, sich zusammenzog – und alle hingen an einem Strick. Und nur ja keine Vergötzung des Volkes. Noch ein jeder, der seine Macht beschwor, hat sich selber davon ausgenommen und versucht, es als Instrument zu benutzen, um seine eigene Melodie darauf zu pfeifen. Einem intelligenten Volk bleibt in einem solchen Fall gar nichts anderes übrig, als sich aufzulösen und in Interessensgruppen zu zerfallen. Selbst gewußt wie. Volk, das waren immer die anderen, Unterdrückten, in deren Namen man herrscht. Vielleicht gab es ohne Diktatur gar kein Volk, und das Heimweh danach war pure Nostalgie. Extra Hungariam non est vita. Das klang gut, aber es stimmte nicht.
Und dann hatte sie ihn doch gesehen, den Dichter mit der Nacht als verschwitztem Hemd. Sie hatte ihn nicht bemerkt, als er kam, aber als ihr Blick nun auf ihn fiel, erkannte sie ihn sofort.
Älter und gleichsam jünger als ihre Erinnerung, mit vorgewölbten Augen und einer langen vornehmen Nase. Und wie er da so saß und an seinem Kaffee nippte, erschien er selbst ihr wie eine von ihm erfundene Figur, deren Phantasie sich an einem Sprung in der Marmorplatte entzündet oder am Blick einer Kellnerin, die ihm gelegentlich etwas aus ihrem Leben erzählt, während er trotzig festhält am Disparaten der Wirklichkeit, die ihm ständig zu Verschiebungen gerät in eine von der Wissenschaft nicht festzumachende Dimension. Ein Verweigererder großen Ideen, der gewaltigen Durchblicke. Immer spießt sich etwas bei ihm. Das Leben als Ungeschicklichkeit, als versäumtes Rendezvous mit der Höhe der Zeit, eine Unordnung, die nichts fruchtet, es sei denn einen Augenblick unvorhergesehenen Glücks, unverdient und gerade deshalb Wirklichkeit, die für sich bestehen kann.
Borisch hätte ihn ansprechen können, wie er da so aus dem hochgehobenen Kaffeelöffel etwas auf die Tischplatte tropfte, hingerissen von dem Muster, das sich ohne sein Zutun bildete, und wobei er gewiß überzeugt war, daß auch dieser harmlose Klecks die Kurzschrift eines sich sammelnden Alptraums sei, dem er unterliegen würde.
Sie hätte ihn ansprechen und fragen können, warum er so hartnäckig an seinen kleinen, nachtmahrgeplagten, den Fortschritt verpassenden Figuren festhielte, aber sie tat es nicht. Vielleicht hätte er ihr geantwortet: »Weil wir – wie ich es sehe – alle so sind, wenn wir uns nichts vormachen.« Möglicherweise hätte er das gesagt. Aber das wußte sie schon, also konnte sie darauf verzichten, ihn zu fragen. Und als sie sein Blick zufällig traf, lächelte er freundlich, so als danke er ihr dafür, daß sie ihn in Ruhe gelassen hatte.
Weihnachten – Weihnachten – Weihnachten. Seit zwanzig Jahren dieses Mutter-Tochter-Fest, beide hängen sie gleich kindisch daran, Mela und Frô.
Nie noch haben sie jemanden dazugebeten. Borisch, Melas Liebhaber, Frôs Freunde werden am Nachmittag oder am nächsten Tag beschenkt, besucht oder eingeladen. Keiner am Heiligen Abend. Eine Orgie
Weitere Kostenlose Bücher