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Ueber die Verhaeltnisse

Ueber die Verhaeltnisse

Titel: Ueber die Verhaeltnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Frischmuth
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wiederkam.
    »Es ist vieles neu hier bei uns.« Die Fahrerin deutete auf einen Hotel-Palast, auf ein Warenhaus, auf einen Nacht-Club. Borisch war nicht bereit, all ihren Winken zu folgen. Das war nicht mehr die Stadt, aus der sie einst geflüchtet war.
    »Sie müssen sich das morgen alles anschauen, bei Tageslicht. Eine schöne Stadt.« Borisch nickte, obwohl ihr gar nicht nach Nicken zumute war.
    »Ich war im Urlaub draußen«, sagte die Fahrerin. »Hat mir ganz gut gefallen.«
    »Ganz gut«, brauste Borisch auf. »Wo waren Sie denn schon?«
    Die Fahrerin blieb ruhig, merkte es vielleicht auch gar nicht. »Wien ist eine schöne Stadt und auch München. Und die Alpen haben mir gefallen.«
    Als die Fahrerin ihr den Koffer aus dem Wagen gab, merkte sie erst, wieviel kleiner sie war als sie.
    Der Portier im Hotel sprach Borisch deutsch an, auch dann noch, als er ihren Paß gesehen hatte. Sie sagte etwas auf ungarisch, aber er reagierte nicht. Der Idiot. So als sei er ein ausländischer Student, der seine Ferialpraxis hier absolvierte. Vielleicht hätte sie ihm ein paar Brocken Muttersprache eingeben müssen, von der Sorte, die am saftigsten schmeckt, aber es fehlte ihr an Eingebung.
    Die ganze Bahnfahrt über hatte sie mit schwitzenden Händen daran gedacht, wie es sein würde. Doch nicht so. Der Portier klärte sie über Restaurant und Bar-Betrieb auf, falls sie noch etwas zu sich zu nehmen beliebe. »Ich beliebe nicht«, sagte sie, aber der Bengel hob nur sein arrogantes Pickelgesicht und posaunte, dann wünsche er ihr eine gute Nachtruhe in diesem Haus. Borisch hätte ihm gerne eine heruntergehauen.
    In ihrem Zimmer stand sogar ein kleiner Eiskasten. Sie nahm eine Flasche Bier heraus, öffnete das Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Dreißig Jahre. Und da stand sie nun, ohne die geringste Ahnung, was tun mit dem Rest des Abends. Durch die Straßen traben und sich allein in ein Lokal setzen? Edvard anrufen? 1848 hatten sich die Ungarn auf die Polen verlassen können. General Bem. Und an seinem Denkmal war dann auch alles losgegangen, an jenem 23. Oktober, vor dreißigJahren. Die Lichter. Ihre Mutter hatte ihr in der finsteren Zeit oft erzählt, daß Budapest in den dreißiger Jahren heller beleuchtet gewesen war als Wien. Ein Lichtermeer, pflegte sie zu sagen mit leuchtenden Vorkriegsaugen. Borisch kippte ihr Bier und legte sich ins Bett. »Und du wirst lachen«, sagt sie zu Mela, als sie ihr später alles erzählt, »ich habe geschlafen.«
    »Die Nacht ist ein verschwitztes Hemd«, hat ein ungarischer Dichter in einer Erzählung geschrieben. Borisch kauft sich noch immer ungarische Bücher in der Ostsprachenbuchhandlung.
    Sie ging in die schönste und bekannteste Kaffee-Konditorei der Stadt zum Frühstücken. Unglaublich, die ganze Pracht der Jahrhundertwende – verspiegelt. Kein Museum oder wenn, dann ein belebtes, lebendiges.
    Sie ließ sich den Teller volladen mit all dem Kleingebackenen, Verzierten, in Kauf nehmend, daß ihr dann vielleicht schlecht werden würde, und orderte Kaffee. Sie servierten ihn in zart gemusterten Porzellantassen, nicht in den dickwandigen, gepreßten Gläsern und mit einem Aluminiumlöffel wie seinerzeit in den Kantinen.
    Ausländer, tatsächliche oder solche wie sie, saßen herum; aber auch Bewohner der Stadt, die Müßiggänger der neuen Klasse, elegante Funktionäre, Besprechungsteilnehmer und natürlich Künstler.
    Borisch wußte, wo die Künstler zu sitzen pflegten, wenn sie hierherkamen. Damals wußte sie genau, in welche Kaffeehäuser sie gingen und in welcher Ecke sie beisammensaßen, vor allem die Schriftsteller. Wer hatte das nicht gewußt? Es war wichtig für die Nation, zu wissen, wo sich ihre Dichter herumtrieben, und sie irgendwo sitzen zu sehen. Nur so konnte man sicher sein, daß keiner geholt worden oder sonstwie verschwundenwar. In den finsteren Zeiten war das besonders wichtig. Noch zeigte sich keiner, es war zu früh am Morgen. Borisch hatte Zeit. Es regnete, und sie wußte ohnehin nicht, wohin zuerst gehen. Ein ganzes Veteranen-Geschwader hatte sich ihr gegenüber niedergelassen. Ältere Damen mit Hüten, wie sie nur mehr in der Váci utca kreiert werden, und mit blaurot bemalten Lippen, in deren kleinen Schrunden die Brösel der Käsebäckerei kleben blieben, sowie mit Blusenkrägen, die von einer Erbbrosche zusammengehalten wurden. Dazu einige Ritter von der hutlosen Art, die langen weißen Strähnen sorgfältig über die Tonsur drapiert. Und die kleinen

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