Ueber die Verhaeltnisse
bereits ein Schmutzrand gebildet hat, selber hinauszutragen, es zu entleeren und obendrein sachgemäß zu reinigen, wobei er unnötig viel Wasser verspritzt, um nicht auch noch den Anschein zu erwecken, er eigne sich zu Vollbringungen dieser Art. Er geht sogar so weit, ein paar Takte von »Noch ist Polen nicht verloren« zu pfeifen, wenn auch nur leise. Andernfalls würde Borisch »Der Pfau ist aufgeflogen« intonieren, worauf es ihm zufiele, mit einem neuen Lied zu replizieren. Da aber Borisch wesentlich mehr solche ins Herz schneidende Lieder kennt, würde er über kurz oder lang,schon der aufrüttelnden Wirkung wegen, auf die »Internationale« verfallen, und da hörte sich dann für Borisch der Spaß auf, und die Folge wäre wieder eine jener endlosen Debatten in der Möglichkeitsform der Vergangenheit, die zu nichts anderem taugen, als sich in Grammatik zu üben.
Schon aus einer gewissen Ökonomie heraus, die sich gegen den Verschleiß der Kräfte richtet, ist Edvard stets geneigt, gewisse Handlungen miteinander zu verknüpfen, sie sozusagen in einem Aufwaschen zu erledigen. Doch sobald seine Sitzfläche mit dem dafür vorgesehenen brillenförmigen Brett in Berührung kommt, trifft ihn der Fluch der vorangegangenen Lavoirsäuberung, was seinem Pfeifen ein natürliches Ende setzt.
Schimpfend trocknet er sich den Hintern, wobei sich die Lust auf Entleerung verschlägt, was ihn umso mehr giftet, da er ohnehin, wie fast alle Archivler, unter einem allzu trägen Stoffwechsel leidet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist klar, daß er sich nun nicht mehr rasieren wird, selbst auf die Gefahr hin, daß die Wirtin des SPANFERKELS zu Besuch käme. Es ist Montagabend, und da steht sie gelegentlich ins Haus, neuerdings sogar häufiger. Diesmal aber wird er ihr unrasiert ins Auge blicken. Seine kräftesparende Ökonomie neigt dazu, in Fatalismus umzuschlagen. Wenn man sich schon den Hintern naß gemacht hat, soll man nicht auch noch riskieren, sich ins Gesicht zu schneiden. Außerdem, findet er, kann ein Mann ruhig wie ein solcher aussehen.
Als Edvard zurück in die Küche kommt, hat Borisch bereits das Abendessen aufgetragen. Ein paar Handgriffe noch, und schon nimmt sie die Schürze ab und setzt sich zu ihm. »Weißt du«, sagt sie, während sie ihm ein Glas mit Bier vollschenkt, »es gibt nicht nur das treffende Wort, sondern auch die treffende Tat. Daß man im rechten Augenblick das Richtigetut. Das ist die Wahrheit.« Und sie schiebt ihm ein paar Essiggurken auf den Teller.
»Die Wahrheit beruht«, behauptet Edvard widerspenstig, »auf der Verdeutlichung des Zusammenspiels aller ihrer Komponenten.«
»Denkst du!« Borisch lutscht an einem Maiskölbchen. »Und wer soll die alle kennen?«
Edvard streicht stumm über seine Bartstoppeln.
»Ich werde dir was sagen, mein Lieber, wenn wir nämlich das Zusammenspiel aller dieser Komponenten oder wie du es nennst einmal kennen, dann brauchen wir keine Wahrheit mehr, dann ist ohnehin alles klar. Aber bis dahin bedarf es einer Wahrheit, in der sich alle diese Komponenten verstecken können, einer treffenden Wahrheit, verstehst du?« Edvard schält umständlich die Haut von einem Wurstrad und schüttelt nachdenklich den Kopf. »Deine windige Wahrheit ist nichts weiter, als daß dich etwas trifft und du es deshalb glaubst. Dieses Glauben hat der Wahrheit noch nie gutgetan.«
»Amen«, sagt Borisch. »Und ich pfeif auf deine Wahrheit, die man nicht glauben soll, aber auch nicht wissen kann. Oder weißt du vielleicht, was mit dieser Stadt los ist? Was mit diesem Land los ist? Was mit uns los ist?«
Da braucht Edvard zwischendurch einen wohlbemessenen Schluck. »Die Zeit ist los mit uns, meine Liebe. Die Zeit, die in einer improvisierten Rechenstunde alles nett und übersichtlich in seine Grenzen verwiesen hat. Jetzt gibt es all die ordentlichen kleinen Länder, für die so viel Blut geflossen ist. Man ist endlich unter sich und seinesgleichen, und das am gewissesten in diesem Land. Hier ist die Illusion am größten, daß es einen Sinn habe, so lange zu strampeln, bis man alles hat, was zu brauchen man sich nur ausdenken kann, dennganz so leicht wie im übrigen Westen geht das hier nicht, daher ist die Gier größer. Alles andere, was in der Aufhäufung kein Vorbild ist, wird vergessen. Die gegenseitige Unterdrückung und die Demütigungen sind zwar weggefallen, doch funktioniert der Stoffwechsel nicht mehr so recht. Das führt zu Lähmungserscheinungen, vor allem im Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher