Ueber die Verhaeltnisse
Diese Stadt war so lange durch den Zuzug von Menschen und Gedanken verwöhnt, daß man ihr zu Recht einiges nachgerühmt hat. Jetzt lebt sie zwar noch gekonnt über die Verhältnisse, aber seit sie im eigenen Saft brodelt und sich nur mehr zur Schau stellt, merkt sie nicht einmal mehr, was ihr geblieben ist, nämlich Folklore der barocken Art und das schamlose Kokettieren mit einer Leistung, die nie erbracht wird. Der Westen findet das unterhaltsam und läßt sich gern durchs Museum führen. Und der Osten? Jetzt sage auch ich schon Osten. Wo die Mitte fehlt, steigen sich die Himmelsrichtungen gegenseitig auf die Zehen. Ungarn wird sein müssen, sagt dein Dichter. Und die anderen reden vom wahren Polen oder vom geeinten Jugoslawien, von einer befreiten Tschechoslowakei und von Donaurepubliken. Dahinter steckt wenigstens noch eine herzhafte Verzweiflung, die zu Ausdauer und Phantasien treibt. Hier aber glaubt man an Abrahams Wurstkessel und daß der Kelch der Geschichte vorübergehen möge.«
»Und wir?« Borisch kehrt mit den Händen die Brösel unter ihrem Teller hervor. »Was tun wir hier?«
»Daß wir hier sind, ist ein Unglücksfall. Niemand hat uns gerufen. Niemand erwartet etwas von uns, nur daß wir uns so schnell und so still wie möglich ins Gegebene schicken. Man will von uns nicht einmal mehr wissen, was wir wissen. Unsere Erfahrungen sind nur mehr als Beispiel dafür gut, daß die Korruption, das Elend und die Gewalt anderswo noch größersind. Und wir haben uns ziemlich bereitwillig ins Auspolstern unserer neuen Höhlen gefügt. Unser Blick zurück aber ist voller Angst, nicht nur vor neuer Verfolgung, sondern auch davor, daß aus dem Verlassenen doch noch was werden könnte und unsere Entscheidung nicht richtig war. Also mauern wir mit. Da strahlt nichts mehr zurück. Es gibt kein Herzstück mehr, und die Glieder reagieren mit frühzeitiger Verkalkung.«
»Ungarn wird sein müssen«, sagt Borisch mitten in Edvards Monolog hinein, »aber was für ein Ungarn. Und selbst wenn es seine Sprache gefunden hat, wer hört ihm zu?«
»Oder das wahre Polen?« sagt Edvard. »Ich weiß vor allem, wer es sich nicht wünscht. Früher haben alle diese Völker gewußt, wie sie zueinander standen, nämlich schlecht, aber sie waren einander nicht nur Reibfläche, sondern auch Spiegel. Jetzt spiegeln sie sich vor allem in sich selbst. Das ist los mit uns, meine Liebe.«
Während Edvard sich zur Belohnung für seinen erschöpfenden Diskurs eine Zigarre anzündet, ist Borisch in krankhaftes Nachsinnen versunken. Mit nach innen gerichtetem Blick räumt sie den Tisch ab, stellt die Gabeln in den Senftiegel und die Wursthäute in die Abwasch. Edvard getraut sich nicht, sie drauf aufmerksam zu machen. Mondsüchtige und die Lage ernsthaft Bedenkende soll man nicht profan anreden. Ihr Hirn könnte sich zu jäh zusammenziehen und Schaden nehmen.
Da läutet es. »Jesusch«, schreit Borisch und läßt die Maiskölbchenschüssel fallen. Sie zerplumpst in zwei Stücke mit glatter Bruchfläche. Vielleicht ist sie noch zu kitten.
Edvard geht freiwillig zur Tür, öffnet sie und küßt Mela beredt die Hand. Ihre Frisur ist in Unordnung, und sie wirkt verstört. »Ich brauche euren Rat«, sagt sie mit rostiger Stimme, als sie sich setzt. Verdattert holt Edvard ein Glas, und als auchBorisch zum Tisch kommt, ist erst einmal eine Runde Wodka fällig.
Frô hat Heyn zum ersten Mal im Extrazimmer des SPANFERKELS gesehen, knapp vor ihrem Geburtstag, an einem gar nicht so vollbesetzten Tag. Der Chef hatte sich kurzfristig zu einem stillen Mittagessen angesagt und den jungen Mann und Heyn mitgebracht. Stilles Mittagessen hieß, daß die Herren zum Hintereingang hereinkamen und weder gestört noch auch nur gesehen werden wollten, während die Sicherheit im Schankraum Platz nahm, sozusagen nicht dabei und doch in Reichweite.
Dieses sollte ein besonders stilles Essen werden, und in ihrer Not hatte Mela Frô gebeten auszuhelfen, nämlich im Service, während sie selbst etwelche Neugierige oder Störer von der Theke aus in Schach zu halten gedachte. Frô, die gerade aus einer Vorlesung nach Hause gekommen war, folgte der Aufforderung ihrer Mutter auf die übliche lustlose Art, hoffend, sie würde es bald hinter sich gebracht haben. Als erstes brachte sie Bier ins Extrazimmer, wobei sie nicht vergaß, die Tür sofort hinter sich zu schließen. Heyns Gesicht – er saß mit dem Rücken zur Tür – sah sie erst, als sie das Tablett bereits auf
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