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Ueber die Verhaeltnisse

Ueber die Verhaeltnisse

Titel: Ueber die Verhaeltnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Frischmuth
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Hunde und Autos aneinander vorbeimußten, was sie in einer ihrem Stand, ihrem Geschlecht und ihrer Größe entsprechenden Weise taten, mit kleinen Abweichungen im Verhalten, jedoch im großen und ganzen der vorgegebenen Linie folgend. Eigentlich war ihr das Kino genug. Es unterhielt sie, seit sie es als mögliches Schauspiel entdeckt hatte, das mit ihr als geheimem Zuschauer nicht rechnete.
    Aber ihre Rolle war in dem Augenblick gefährdet, in dem der Film begann und sie im Foyer allein bleiben würde, denn dann wäre sie als Zuschauer mit einem Mal auffällig und würde selbst zu einem Schauspiel, zumindest für die Frau hinter der Theke und die an der Kassa. Sie würde also demnächst eine Karte kaufen oder nach Hause gehen.
    Zwei Männer gingen nebeneinander her und verabschiedeten sich vor der Glastür, die ins Kino führte, wobei der eine, der ihr das Gesicht zuwandte, mit dem Arm eine umfassende Geste machte, die sowohl meinen konnte, daß er nun einen Bogen durch die Stadt schlagen, als auch, daß er dies alles hier, die Stadt, das Land, Europa, demnächst verlassen werde. Noch schwankte sie zwischen den beiden von ihr angenommenen Bedeutungen, als der andere Mann hereinkam, und zwar gerade in dem Augenblick, in dem sie ihre Kaffeetasse zurück aufdie Theke stellte, und in diesem einen unaufmerksamen Augenblick hatte sich dieser Mann in Heyn verwandelt.
    Noch spannte ihm die Kälte die Gesichtshaut, aber während der ersten Schritte im geheizten Foyer öffnete er bereits den Mantel und steckte den Schal in die Tasche. Noch hatte er sie nicht bemerkt, und Frô spürte eine kurze Unregelmäßigkeit in ihrem Atem. Einen Augenblick lang dachte sie an Flucht und drückte ihre Mappe fest an sich, aber dann ging diese Bewegung in eine Art von Sich-Totstellen über, in eine vollkommene Reglosigkeit, so als könne sie sich dadurch unsichtbar machen, ohne daß sie wußte, was sie damit eigentlich wollte. Daß er sie nicht erkennen möge? Dann hätte sie ihm den Rücken kehren oder zumindest den Blick von ihm abwenden müssen, aber keines von beiden schien ihr noch im Bereich des Möglichen. Es standen nur mehr drei Leute vor der Kasse, und Heyn trat hinzu, keine fünf Schritte von ihr entfernt. Sie wußte um ihr Starren, aber es war das Starren der Reglosigkeit.
    Der Mantel schien ihm lästig zu sein, und er trat wieder aus der Reihe. Auf dem Weg zur Garderobe kam er ganz dicht an ihr vorbei. Und da löste sich die Starre – er war vorübergegangen, ohne sie zu bemerken. Das Blut begann in ihren Händen zu kribbeln, und sie wandte den Kopf nach ihm um, aber da hatte auch er sich bereits umgedreht und kam auf sie zu, ohne das geringste Zeichen der Überraschung.
    »Wollen Sie auch in den Film?« Sie nickte, mehr traute sie sich noch nicht zu.
    »Kommen Sie«, er machte eine Bewegung, die ihren Mantel forderte, und sie gab ihn ihm.
    »Haben Sie schon eine Karte?« Sie schüttelte den Kopf und begann neben ihm herzugehen, zuerst zur Garderobe, dann zur Kassa, so als habe sie keine andere Wahl, dabei kam ihr das allesfurchtbar dumm vor, aber es gab keinen Ausweg mehr, den sie sich hätte vorstellen können. Der Film hatte schon angefangen, und er berührte sie leicht an der Schulter, um ihr die Richtung zu weisen, als der Billeteur ihm ihre Sitze angeleuchtet hatte. Zum Glück saßen sie am Rand; er klappte den Stuhl für sie auf und setzte sich erst, als sie sich bereits hingesetzt hatte.
    Es war ein gewaltiger, ein gewaltsamer Film, voller Nachrichten aus einer Welt, die sie nicht kannte, an der sie nur die Schönheit, die Grausamkeit und den Schmerz erkennen konnte, so daß sie von Zeit zu Zeit die Augen schloß. Heyn schien es zu bemerken, denn er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu sehen, aber da hatte sie die Augen wieder offen, und er griff, wie zur Beruhigung, nach ihrer Hand, ließ sie aber bald wieder los, da sie mit keiner Regung darauf antwortete.
    Als der Film zu Ende war, sagte er: »Na?« Aber sie erwiderte nichts, so als könne sie vor Ergriffenheit nichts sagen, und natürlich war sie auch ergriffen, aber daran lag es nicht. Sie schlüpften wortlos in ihre Mäntel, und sie fürchtete, daß es damit sein Bewenden haben könnte, obgleich dieser Gedanke sie auch erleichterte.
    »Wie wär’s mit einem kleinen Imbiß?« fragte Heyn sie auf der Straße. »Oder werden Sie zu Hause erwartet?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich helfe nur in besonderen Fällen aus. Eigentlich studiere ich Frühgeschichte.« In

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