Über Gott und die Welt
nitesimalrechnung. »Die Uhr und das Alphabet brachten durch das Zerhacken der Welt in lauter visuelle Abschnitte die Harmonie der Wechselbeziehungen zum Verstummen.«39 Sie erzeugten einen Menschen, der zu trennen vermag zwischen seinen Gefühlen und dem, was er im Raum aufgereiht sieht; sie erschufen den spezialisierten Menschen, der gewohnt ist, in linearer Weise zu argumentieren, frei von den Stammesbindungen der »oralen«
Epochen, in denen jedes Mitglied der Gemeinschaft Teil einer ungeschiedenen Einheit war, die emotional und »ganzheitlich«
auf das Geschehen im Kosmos reagierte.
Die Drucktechnik (der McLuhan sein vielleicht bestes Buch, Die Gutenberg-Galaxis, gewidmet hat) ist ein typisches »heißes«
Medium. Anders als der Begriff vermuten läßt, erweitern »heiße Medien« nur einen einzigen Sinn (im Falle der Drucktechnik den Gesichtssinn) zu einer hohen Defi nitions- und Aufnahmefähigkeit, indem sie den Empfänger mit Daten sättigen, mit präzisen und
»detailreichen« Informationen vollstopfen, aber seine übrigen Fähigkeiten unberührt lassen. In gewisser Weise hypnotisieren sie ihn, aber durch Fixierung nur eines Sinnes auf einen bestimmten Punkt. Umgekehrt liefern »kühle Medien« Informationen von geringer Detailpräzision, zwingen den Empfänger, die Lücken selbständig aufzufüllen, und beanspruchen dadurch seine ganze Person mit allen Sinnen und Fähigkeiten. Sie »beteiligen«
ihn, aber in Form einer Halluzination, die ihn ganz erfüllt. Die Drucktechnik und das Kino sind heiße Medien, das Fernsehen ist kühl.
Das Aufkommen der Elektrizität hat nun einige revolutionäre Neuerungen gebracht: Erstens haben wir mit dem elektrischen Licht – wenn es stimmt, daß unabhängig vom transportierten Inhalt das Medium die Botschaft ist – zum erstenmal in der Geschichte ein absolut inhaltloses Medium; zweitens präsentiert die Elektrotechnik, die nicht ein einzelnes Organ, sondern unser Zentralnervensystem erweitert, als ihr primäres Produkt die Information. Die anderen Produkte der mechanischen Zivilisation sind in einer Zeit der Automation, raschen Nachrichtenübermittlung, Kreditwirtschaft und weltweiten Finanzoperationen gegenüber dem Produkt Information sekundär geworden; Produktion und Verkauf von Information haben sogar die ideologischen Grenzen überwunden. Zur gleichen Zeit hat das »kühle« Medium par excellence; das Fernsehen, die vom Gutenberg-Modell inspirierte lineare Welt der mechanischen Zivilisation zerstört und eine Art Stammeseinheit oder ursprüngliches Dorf wiederhergestellt.
»Das Fernsehbild ist visuell datenarm. Es ist keine photographische Einzelaufnahme. Es ist überhaupt keine richtige Photographie, sondern eine ständig in Bildung begriffene Profi lierung von Dingen, die ein elektronischer Stift abtastet …
Das Fernsehbild bietet dem Betrachter etwa drei Millionen Punkte pro Sekunde, aber davon nimmt er jeweils nur ein paar Dutzend gleichzeitig auf, um sich daraus ein Bild zu machen …«40 »Wie das Fernsehen, dieses Maschennetz und Leuchtpunkt-Mosaik, die Perspektive der Kunst nicht fördert, so ist es auch der Linearität in der Lebensweise nicht förderlich.
Seit dem Aufkommen des Fernsehens ist das Fließband aus der Industrie verschwunden, desgleichen die hierarchisch-lineare Struktur aus dem Management der Betriebe. Verschwunden sind auch die Reihen der alleinstehenden Männer auf Tanzfesten, die politischen Linien der Parteien, die Aufstellungen des Hotelpersonals bei der Ankunft eines Gastes und die Nähte der Nylonstrümpfe …«41 »Der Gesichtssinn, erweitert durch die phonetische Alphabetschrift, macht das analytische Wahrnehmen einzelner Aspekte im Leben der Formen zur Gewohnheit. Er erlaubt uns, den Einzelfall zu isolieren, in Zeit und Raum wie in der darstellenden Kunst … Umgekehrt bedient sich die ikonische Kunst der Augen, wie wir uns der Hände bedienen, um ein ganzheitliches Bild zu formen, das aus vielen Phasen, Momenten und Aspekten besteht. Daher ist der Modus des ikonischen Bildsymbols nicht visuelle Darstellung und auch nicht Spezialisierung des visuellen Akzents, das heißt der Sicht aus einer besonderen Position. Die taktile Wahrnehmungsweise ist abrupt, nicht spezialisiert. Sie ist total, synästhetisch und darauf aus, alle Sinne einzubeziehen. Vom Mosaikbild des Fernsehens durchdrungen, sieht das Fernsehkind die Welt in einem konträr dem Alphabetismus entgegengesetzten Geist … Die jungen Leute, die seit einem Jahrzehnt
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