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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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diese Abfolge als eine »absteigende«28, drängt sich bereits die Diagnose in die Beschreibung: Der Mensch stürzt abwärts, denn er hat die Mitte verloren. Wer die Nerven hat, an diesem Punkt ein paar Kapitel des Buches zu überspringen (von S. 50 bis S. 133), erspart sich viele Traumata, denn in den Schlußkapiteln gibt Sedlmayr den Schlüssel zum Verständnis der Symbole, die er in den Kapiteln davor behandelt: Die Mitte ist das Verhältnis des Menschen zu Gott. Nach dieser Behauptung (ohne daß Sedlmayr, der kein Theologe ist, sich damit aufhält, uns zu erklären, was Gott ist und worin das Verhältnis des Menschen zu Ihm besteht) gelangt auch ein Kind zu dem Schluß, daß Kunstwerke, in denen Gott nicht vorkommt und die sich auch nicht mit Gott auseinandersetzen, gottlose Kunstwerke sind. An diesem Punkt vergeuden sich die Petitiones principii: Wenn Gott »räumlich oben« ist, dann ist ein Kunstwerk, das sich auch verkehrt herum betrachten läßt (siehe Kandinsky), atheistisch. Gewiß hätte Sedlmayr dieselben Zeichen, die er im Verlauf der abendländischen Kunstgeschichte entdeckt (romanischer Dämonismus, Obsessionen à la Bosch, Bruegelsche Groteske usw.), nur in einem anderen Schlüssel zu lesen brauchen, um zu schließen, daß der Mensch anscheinend in seiner ganzen Geschichte nichts anderes getan hat, als ständig die Mitte zu verlieren. Aber der Autor hält sich lieber an schulmei-sterliche Philosopheme wie: »Unbedingt festgehalten muß daran werden, daß – so wie das Wesen des Menschen zu allen Zeiten eines ist – auch das Wesen der Kunst zu allen Zeiten dasselbe ist, mögen ihre Äußerungen auch noch so verschieden aussehen.«29
    Was soll man dazu sagen? Hat man den Menschen erst einmal als »Natur und Übernatur« defi niert30 und die Übernatur (die göttliche Seite) in jenen Begriffen, in denen eine bestimmte Phase der abendländischen Kunst sie dargestellt hat, so ist es, wenn seit dem 18. Jahrhundert »eine Kluft zwischen Gott und dem Menschen« diese zwei Seiten auseinanderhält, in der Tat »offenbar so, daß dieses Auseinanderhalten dem Wesen des Menschen (und Gottes) widerspricht«31 – sobald man das Wesen beider aus einer partikularen Ikonographie deduziert, die man als ein für allemal gültig betrachtet.
    Um zu diesen Passagen lachhafter Philosophie zu gelangen, erwirbt sich der Autor jedoch zunächst die Bewunderung der literarischen Welt durch einige Musterbeispiele von Lektüre im Kaffeesatz.
    Wie liest man im Kaffeesatz? Zum Beispiel indem man voller Entsetzen die Tendenz der modernen Architektur zur »Loslösung von der Erdbasis« konstatiert, zu jener »Vertauschung von unten und oben«32, die den Gipfel der Ungeheuerlichkeit mit dem Flachdach erreicht, dem horizontalen Perron als einer »Urzelle des neuen Bauens«.33 Das Trauma des Flachdachs zieht sich (neben dem Trauma des Kugelbaus) durch Sedlmayrs gesamten Diskurs: Diese Horizontalisierung der Architektur, die zwischen Stockwerk und Stockwerk die Leere der gläsernen Wände gestattet, dieser Verzicht auf das vertikale Wachstum (außer durch Übereinanderschichtung horizontaler Stockwerke), erscheinen ihm als »Symptome einer Verleugnung des Tektonischen«34
    und einer »Bodenlosigkeit«35 der Architektur; nirgendwo kommt ihm in Begriffen der Bauwissenschaft der Gedanke, daß ein Wolkenkratzer aus übereinandergestapelten horizontalen Geschossen solider steht als der Chor von Beauvais, der wieder und wieder zusammenbrach, bis man ihn stehenließ, wie er war, ohne die Kathedrale anzufügen. Nachdem Sedlmayr die Architektur als eine besondere Form von Verhältnis zum Boden identifi ziert hat, sieht er sie allenthalben zerfallen und birgt das Haupt unter dem Flügel. Die Tatsache, daß jemand kugelförmig statt kubus- oder pyramidenförmig baut, raubt ihm den Atem: Wie dem Verrückten die sieben Streichhölzer, erscheinen ihm die Kugeln von Ledoux bis Fuller als unwiderlegliche Zeichen für ein Ende der architektonischen Zeiten. Mit der Sicht einer Kugel als Epiphanie des Verlustes der Mitte wären Parmenides und Augustinus schwerlich einverstanden gewesen, aber Sedlmayr ist auch bereit, die gegebenen Archetypen zu ändern, um die Geschehnisse, die er als Symbole auserwählt, das bedeuten zu lassen, was er von vornherein bereits wußte.
    Zu den bildenden Künsten übergehend, sieht er in den
    Karikaturen von Goya oder Daumier den Eintritt des ent-stellten und seelisch zerrütteten Menschen – als hätten die griechischen

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