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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Wolkenkratzern, jedenfalls aus einer Schule, der unsere europäische Geschichtsdimension abgeht, hier wenigstens eine vage Idee von Geschichte erhält?
    Ich habe hier ganze Schulklassen schwarzer Kinder herumlaufen sehen, sehr angeregt und vergnügt, gewiß viel »beteiligter« als eine Gruppe weißer Kinder beim erzwungenen Rundgang durch den Louvre …
    Am Ausgang, wo man die üblichen Postkarten und illustrierten Geschichtsbücher kaufen kann, gibt es auch Reproduktionen historischer Dokumente, vom Kaufvertrag über Manhattan bis zur Unabhängigkeitserklärung. Die Leute nehmen sie in die Hand und sagen: »It looks old and feels old«, denn das Faksimile weckt nicht nur beim Berühren die Illusion von Alter, sondern es riecht auch irgendwie alt. Fast echt. Nur ist dummerweise der Kaufvertrag über Manhattan zwar in pseudoantiken Schnörkelbuchstaben geschrieben, aber englisch, während das Original natürlich holländisch war. Es handelt sich also nicht um ein Faksimile, sondern – wenn der Neologismus erlaubt ist – um ein »Fak-di-verso«. Wie in einer Novelle von Heinlein oder von Asimov: Man hat irgendwie das Gefühl, aus der Zeit auszutreten und in einen raumzeitlichen Nebel einzutauchen, in dem die Jahrhunderte sich vermischen. Dasselbe wird uns in einem Wachsfi gurenkabinett an der kalifornischen Küste passieren, wenn wir in einem Café à la Strandpromenade von Brighton an ein und demselben Tisch Mozart und Caruso sitzen sehen, dahinter stehend Hemingway, während am Nebentisch Shakespeare mit Beethoven plaudert, in der Hand eine Mokkatasse.
    Auf der anderen Seite bemühen sich Öko-Archäologen in
    Old Bethpage Village auf Long Island, einen Bauernhof aus dem frühen 19. Jahrhundert so zu rekonstruieren, wie er damals gewesen war. Aber so, wie er damals gewesen war, heißt auch mit dem Vieh, wie es damals gewesen war, und nun trifft es sich, daß die Schafe seit jener Zeit dank raffi nierter Zuchtverfahren eine interessante Evolution durchgemacht haben, denn damals hatten sie schwarze Köpfe ohne Wolle, und heute haben sie weiße mit Wolle und sind natürlich ergiebiger. Und nun arbeiten die besagten Öko-Archäologen an einem neuen Zuchtverfahren, um eine »evolution retrogression« der Schafe zu erzielen. Indessen erhebt der nationale Züchterverband massiven Protest gegen diese Beleidigung des biotechnischen Fortschritts, und so kommt es zu einem Streitfall: die Verfechter des »Immer voran!« gegen die Verfechter des »Vorwärts zurück!« – wobei man nicht weiß, wer die utopischeren Phanta-Szientisten sind und wer die wahren Fälscher der Natur. Doch was Kämpfe um the real thing angeht, ist unsere Reise gewiß noch nicht hier zu Ende: more to come!
    Die Krippen Satans
    Fisherman’s Wharf in San Francisco ist ein Schlemmerland voller Freßlokale, Andenkenläden mit touristischem Krimskrams und prächtigen Muscheln, Straßenstände, an denen man fangfrische Krabben und Riesengarnelen direkt aus dem Kessel, Austern und knuspriges Stangenbrot essen kann. Auf den Trottoirs Musikanten, Schwarze und Hippies, die ganze Konzerte improvisieren, im Hintergrund Segelboote, ein Wald von Masten, eine der schönsten Buchten der Welt und die Insel Alcatraz. In Fisherman’s Wharf gibt es aufgereiht nebeneinander vier Wachsfi gurenkabinette.
    Bei uns in Europa gibt es je eins in London, eins in Paris, eins in Amsterdam, eins in Mailand, und es sind unauffällige, leicht übersehbare Bauten, abgelegen in Seitenstraßen. Hier liegen sie an der Hauptstraße. Auch in Los Angeles liegt das beste direkt am Hollywood Boulevard, wenige Schritte neben dem berühmten Chinese Theatre, und ganz Amerika ist übersät mit
    »Wachsmuseen«, für die in allen Hotels geworben wird wie für bedeutende Attraktionen. Im Großraum Los Angeles gibt es das Movieland Wax Museum und den Palace of Living Arts, in New Orleans das Musée Conti, in Florida gibt es das Miami Wax Museum, das Potter’s Wax Museum in St. Augustine, die Stars Hall of Fame in Orlando, das Tussaud Wax Museum in St. Petersburg, andere gibt es in Gatlinburg/Tennessee, Atlantic City/New Jersey, Estes Park/Colorado, Chicago etc.
    Was man in einem europäischen Wachsfi gurenkabinett fi ndet, ist bekannt: berühmte Gestalten von Julius Caesar bis Papst Johannes XXIII. mehr oder weniger eingebettet in kleine Szenen, »lebendig und sprechend«. Die meisten sind schäbige Etablissements, in jedem Falle verschämt und verhalten. Ihre amerikanischen Gegenstücke sind

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