Über Gott und die Welt
lärmend und aggressiv, sie überfallen einen mit riesigen Werbeplakaten schon Meilen vorher auf der Autobahn, sie kündigen sich von weitem mit Leuchtschriften, kreisenden Türmen und grellbunten Lichtern an. Gleich am Eingang verkünden sie einem, man werde nun eine der aufregendsten Erfahrungen seines Lebens machen, sie kommentieren die einzelnen Szenen jeweils mit langen reißerisch formulierten Beischriften, sie verquicken unterschiedslos historische Evokation, religiöse Feier und Glorifi zierung von Personen des Kinos, der Märchen und Sagen, der bekanntesten Abenteuer, sie insistieren auf dem Entsetzlichen und Blutrünstigen, sie treiben das Bemühen um Wirklichkeitsnähe bis zur neurotisch-de-tailbesessenen Pingeligkeit. Im Movieland Wax Museum von Buena Park, Los Angeles, hat Jean Harlow, die auf einem Kanapee liegt, auf dem Tischchen neben sich Exemplare von zeitgenössischen Illustrierten, und an den Wänden eines von Charlie the Tramp bewohnten Zimmers hängen Plakate vom Beginn des
Jahrhunderts. Die Szenen fügen sich zu Sequenzen, umgeben von tiefster Finsternis, es gibt keine Leerräume zwischen den von Wachsfi guren bewohnten Nischen, sondern verbindende Ausstaffi erungen, die den sensationellen Eindruck noch steigern.
Gewöhnlich sind es Spiegel, so daß man rechts etwa Dracula sehen kann, der gerade einen Sargdeckel öffnet, und links das eigene Gesicht neben Draculas Spiegelbild, während dahinter schemenhaft die Gestalten von Jack the Ripper oder von Jesus erscheinen, refl ektiert über ausgetüftelte Brechungswinkel, Bögen und Perspektiven, so daß man schwer zu entscheiden vermag, was Realität und was Illusion ist. Man nähert sich einer besonders verlockenden Szene, aus dem Schatten vor dem Hintergrund eines altes Friedhofes löst sich eine Gestalt, und plötzlich entdeckt man, daß die Gestalt das eigene Spiegelbild ist, und der Friedhof entpuppt sich als die Spiegelung einer nächsten Szene, in welcher das Rühr- und Schauerdrama der Grabräuber dargestellt wird, die zu Paris vor hundert Jahren ihr Unwesen trieben.
Im selben Museum gelangt man in eine verschneite Steppe, in welcher gerade der Doktor Schiwago, gefolgt von Lara, aus einem Schlitten steigt, doch um hinzugelangen, muß man durch die verfallene Bauernkate, in welcher die beiden Liebenden hausen werden, und durch die geborstene Decke ist ein Haufen Schnee auf den Boden gefallen. Man spürt eine unwillkürliche Rührung, ein starkes Mitgefühl für Schiwago, man fragt sich, ob es an der Lebendigkeit liegt, mit der die Gesichter der beiden gestaltet sind, an der Natürlichkeit ihrer Haltungen, an dem einschmeichelnd-süß erklingenden Lara-Thema, und plötzlich meint man, daß es tatsächlich kälter geworden ist, geradezu eiskalt, denn alles muß wie in Wirklichkeit sein. Die »Wirklichkeit« ist ein Film, doch ein weiteres Kennzeichen dieser Wachsmuseen ist, daß die Vorstellung von historischer Wirklichkeit in ihnen sehr »demokratisch« erscheint: Das Boudoir der Marie Antoinette ist mit größter Detailgenauigkeit nachgebaut, aber ebenso akkurat ist die Szene der Begegnung von Alice im Wunderland mit dem verrückten Hutmacher.
Wenn man zuerst Mozart und dann Tom Sawyer begegnet, oder wenn man die Höhle des Planeten der Affen betritt, nachdem man soeben der Bergpredigt beigewohnt hat, zu Füßen Jesu und seiner Jünger, dann ist das logische Unterscheidungsvermögen zwischen Wirklicher Welt und Möglichen Welten defi nitiv zer-sprungen. Selbst wenn ein gutes Museum, das im Durchschnitt sechzig bis siebzig Szenen mit einer Gesamtzahl von zwei- bis dreihundert Figuren aufreiht, seine Zonen irgendwie unterteilt, indem es die Welt des Kinos von der religiösen und von der historischen Welt unterscheidet, sind die Sinne am Ende der Reise so hoffnungslos überlastet, daß ihnen alles zu einem breiigen Einerlei verschmilzt: Lincoln und Doktor Faustus erscheinen gleichermaßen rekonstruiert im Stil des chinesisch-sozialistischen Realismus, Kasperle und Fidel Castro gehören defi nitiv zur gleichen ontologischen Kategorie.
Diese anatomische Präzision, diese halluzinierte Kälte, diese Exaktheit auch und gerade in den schaurigsten Einzelheiten (dank welcher ein gevierteilter Körper die Eingeweide in schönster Ordnung vorzeigt, wie ein medizinisches Lehrmodell) erinnern an einige Vorbilder. Zum einen an die neoklassischen Wachsfi guren des Museo della Specola in Florenz, in denen sich Ambitionen à la Canova mit Horrorvisionen
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