Über Gott und die Welt
Neuschwanstein, das zur Gänze aus spätromantisch nachempfundener Gotik besteht).
Das Getty Museum ist demgegenüber das Werk eines Mannes und seiner Mitarbeiter, die auf ihre Weise versuchen, eine zuver-lässige und »objektive« Vergangenheit zu rekonstruieren. Wenn die griechischen Statuen hier nicht griechisch sind, sind sie doch wenigstens gute römische Kopien und werden als solche gezeigt; wenn die Tapisserien, vor denen die echten Raffaels hängen, heute gemacht worden sind, sind sie doch immerhin so gemacht, daß sie die Gemälde in eine Umgebung plazieren, die derjenigen nicht unähnlich ist, für die sie bestimmt waren. Die Kybele aus der Sammlung Mattei in Rom steht in einem nachgebauten Kybele-Tempel, an dem uns die Makellosigkeit stört, die Frische des »soeben fertiggestellten« Neubaus – uns, die wir an halbzerfallene und verwitterte Tempel gewöhnt sind; aber Paul Gettys Archäologen haben ihn ganz bewußt so gestaltet, daß er aussieht, wie ein frisch errichteter römischer Tempel ausgesehen haben muß, und auf der anderen Seite wissen wir nur zu gut, daß viele antike Statuen, die uns heute durch ihr strahlendes Weiß faszinieren, ursprünglich bunt bemalt waren, auch die heute so blinden Augen hatten aufgemalte Pupillen. Das Getty Museum läßt die Statuen weiß (und erliegt allenfalls in diesem Sinne dem archäologischen Fetischismus der Europäer), aber die Wände des Tempels bestückt es mit bunten Marmorplatten und präsentiert ihn dann als hypothetisches Modell. Man möchte fast meinen, daß Getty der Vergangenheit näherkommt, wenn er den Tempel rekonstruiert, als wenn er die Statue in die eisige Unvollständigkeit und unnatürliche Isolierung der »korrekten«
Restauration versetzt.
Mit anderen Worten, das Getty Museum stellt uns, nach der ersten spöttischen oder verblüfften Reaktion, vor eine Reihe von Fragen: Wer hat recht? Wie nähert man sich der Vergangenheit?
Der archäologische Respekt ist nur eine der möglichen Formen, andere Epochen haben das Problem auf andere Weise gelöst.
Ist die Getty-Lösung typisch für unsere Epoche? Überlegen wir einmal, wie ein römischer Patrizier in der Kaiserzeit lebte und was er sich dachte, wenn er in seinem Bedürfnis, die Herrlichkeiten der griechischen Kunst in seiner Heimat zu reproduzieren, sich eine der Villen erbauen ließ, die das Getty Museum nachgebaut hat. Er schwärmte vom unerreichbaren Parthenon und bestellte sich bei hellenistischen Künstlern Kopien der großen Skulpturen aus der Perikles-Zeit. Der römische Patrizier war ein gieriger Hai: Erst tat er alles, um die griechische Kultur in die Krise zu stürzen, dann sicherte er ihr Überleben in Form von Kopien.
Zwischen dem römischen Patrizier und dem Griechenland des fünften Jahrhunderts lagen, sagen wir, fünf- oder sechshundert Jahre. Zwischen Getty und dem nachgebildeten Römertum liegen etwa zweitausend. Den zeitlichen Abstand überbrückt das archäologische Wissen, wir können Gettys Spezialisten vertrauen, ihre Nachbildung kommt Herculaneum näher als die Nachbildung in Herculaneum ihren griechischen Vorbildern. Unsere Reise ins Absolut Falsche, begonnen im Zeichen der Ironie und des hoch-näsigen Degouts, stellt uns auf einmal dramatische Fragen.
Verlassen wir das Getty Museum, machen wir einen Sprung von mehreren tausend Kilometern und begeben uns nach Florida in das Ringling Museum of Art. Die Ringlings waren keine Ölmagnaten, sondern Zirkuskönige. Als sie sich einen Palast erbauten, erbauten sie einen falsch-venezianischen, der alles in allem weniger kostete als das Hearst Castle und noch praller von offen-kundigen Fälschungen strotzt. Doch gleich daneben, im Park an der Bucht von Sarasota, errichteten sie ein Kunstmuseum, das der Sammlung Getty, was echte Werke betrifft, in nichts nachsteht: Caravaggio, Gaudenzio Ferrari, Piero di Cosimo, Rubens, El Greco, Cranach, Rembrandt, Hals, Veronese … Es ist kleiner als der Louvre, aber größer als das Museo Poldi-Pezzoli in Mailand.
Leute, die Geld hatten und es gut anzulegen verstanden.
Doch was für ein baulicher Rahmen umgibt diese Schätze? Eine weitläufi ge Renaissance-Villa, etwas wirr in den Proportionen, beherrscht von einem Michelangelo-David, die Kolonnade voll von etruskischen Statuen (vermutlich echten, erbeutet in Zeiten, als die Etruskergräber noch nicht so gut geschützt waren wie heute), ringsum ein angenehmer italienischer Park. Der Park ist mit Statuen angefüllt, man kommt sich vor wie
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