Über Gott und die Welt
auf einem Empfang mit lauter alten Bekannten: sieh da, der Diskuswerfer, dort drüben Laokoon, grüß dich, Apollo von Belvedere, wie geht’s? Mein Gott, immer dieselben Leute.
Natürlich sind, im Gegensatz zu den Kunstwerken drinnen, diese hier draußen allesamt falsch. Und das steht auch klar auf den Bronzeplaketten zu Füßen jeder Figur. Aber was heißt
»falsch« bei einer Gipskopie oder einem Bronzeguß? Lesen wir eine beliebige Beischrift: »Tänzerin. Moderner Bronzeabguß einer römischen Kopie aus dem ersten Jahrhundert nach Christus eines griechischen Originals aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Das Original [das heißt die römische Kopie] befi ndet sich im Nationalmuseum von Neapel.« Also was nun? Das europäische Museum hat eine römische Kopie. Das amerikanische Museum hat eine Kopie der römischen Kopie. Aber schließlich sind es Kopien von Skulpturen, bei denen, wenn man gewisse technische Standards einhält, nichts verlorengeht. In welchem Geiste protestieren wir also? Und protestieren wir darüber, daß hier der Giambologna nicht weit vom Laokoon steht, wenn ziemlich genau dasselbe in unseren Museen passiert? Oder daß sich die einigermaßen akzeptable Imitation der Renaissance-Loggia unweit des eher grotesk imitierten Palazzo vom Canal Grande erhebt? Aber wie erginge es wohl dem Besucher, der diese Souvenirs in tausend Jahren betrachtet, ohne Kenntnis von einem Europa, das dann womöglich schon lange verschwunden ist? Vielleicht so ähnlich wie dem Touristen im heutigen Rom, der den Weg vom Palazzo delle Assicurazioni an der Piazza Venezia, vorbei am Viktor-Emanuel-Denkmal, durch die Via dei Fori Imperiali zum Kolosseum geht und schließlich vor den Resten der Servianischen Mauer in der Fassade des Bahnhofs Termini landet.
Bedingung ist allerdings, daß dieses Amalgam von Echtem und Falschem durch eine historische Katastrophe erzeugt worden ist –
durch dieselbe, die schon dafür gesorgt hat, daß uns die erhabene Akropolis von Athen genauso verehrungswürdig erscheint wie Pompeji, ein Städtchen aus kleinen Häusern und Bäckerläden.
Womit wir zum Thema der Ultima Spiaggia kommen, des »Letzten Ufers« als Ausdruck jener apokalyptischen Philosophie, die mehr oder weniger explizit diese Rekonstruktionen beherrscht: Europa versinkt in der Barbarei, es gilt, soviel wie möglich davon zu retten. Die gleiche Vorstellung hatte auch schon, wenn nicht der römische Patrizier, so doch der mittelalterliche Mäzen, der völlig unterschiedslos antike Erinnerungsstücke sammelte und – siehe Gerbert von Aurillac, besser bekannt als Papst Sylvester II. – eine Handschrift von Statius gegen eine Armillarsphäre tauschte (aber er hätte auch umgekehrt vorgehen können, laut Huizinga reagierte der mittelalterliche Mensch auf das Kunstwerk so wie heute ein staunender Bourgeois). Wir haben auch keinen Anlaß, uns über die »Pietas« lustig zu machen, die, vermischt mit dem Sammlertrieb, die Ringlings dazu bewogen hat, das komplette Theater von Asolo zu erwerben (samt hölzernen Aufbauten, Bühne, Parkett und Galerie), das sich seit 1798 im Park der Caterina Cornaro befand (und später die Duse beherbergen sollte), bis es 1930 abgerissen und an einen Antiquitätenhändler verkauft wurde, um Platz zu machen für einen »modernen« Saal.
Heute steht es unweit des falsch-venezianischen Palastes und be-herbergt künstlerische Ereignisse von beachtlicher Reputation.
Doch um das Thema des Letzten Ufers zu verstehen, keh-
ren wir nach Kalifornien zurück, diesmal zum Friedhof Forest Lawn in Glendale. Die Idee seines Gründers war, daß Forest Lawn in seinen diversen Ausgaben nicht ein Ort der Trauer sein sollte, sondern einer der Heiterkeit – und da sich dieses Gefühl durch nichts so gut vermitteln läßt wie durch die Natur und die Kunst, bevölkerte Mr. Eaton, der Erfi nder dieser neuen Friedhofsphilosophie, seine Forest Lawns mit Kopien der großen Meisterwerke der Vergangenheit, von Michelangelos David bis zu seinem Moses, von Donatellos Sankt Georg bis zur Marmorreproduktion der Sixtinischen Madonna Raffaels, nicht ohne das Ganze mit beglaubigten Erklärungen der italienischen Aufsichtsbehörde für Altertumswesen und Schöne Künste zu versehen, in welchen amtlich bestätigt wird, daß die Gründer von Forest Lawn effektiv in allen Museen Italiens gewesen sind, um sich die Meisterwerke der Renaissance anzusehen und »echte«
Kopien davon zu bestellen.
Um Leonardos Abendmahl hier zu sehen,
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