Über Gott und die Welt
die Religion der Unterdrückten sei und bereit wäre, sie zur Revolte zu befähigen? Traut er uns nicht?
Er verabschiedet uns um vier Uhr morgens, während die Trance allmählich aus den erstarrten Gliedern der Söhne und Töchter des Heiligen weicht. Es dämmert. Er schenkt uns einige seiner Gemälde. Er wirkt wie der Chef eines Tanzlokals in der Vorstadt.
Er hat nichts von uns verlangt, er hat uns nur Geschenke gemacht und ein Essen angeboten.
Eine Frage ist offengeblieben, die ich weder ihm noch seinem Kollegen in São Paulo gestellt habe. Mir ist aufgefallen, nicht nur in diesen zwei Fällen, daß der Candomblé – vom Umbanda gar nicht zu sprechen – immer mehr Weiße anzieht. Ich habe einen Arzt gefunden, einen Anwalt, eine beträchtliche Anzahl Proletarier und Subproletarier. Ursprünglich ein Verlangen nach rassischer Autonomie, Abgrenzung eines für die Religionen der Europäer unzugänglichen Raumes der Schwarzen, verwandeln sich diese Kulte immer mehr zu einem für alle gültigen Angebot an Hoffnung, Trost und Gemeinschaftsleben: gefährlich nahe den Praktiken des Karnevals und des Fußballs, wenn auch den alten Traditionen treuer, nicht so konsumistisch und besser fähig, die Persönlichkeit der Adepten zu durchdringen – ich möchte fast sagen: weiser, wahrer, mehr mit den elementaren Trieben, den Mysterien des Körpers und der Natur verbunden –, gleichwohl immer noch eine der vielen Arten, die entrechteten Massen in einer Art Indianerreservat zu halten. Während die herrschenden Generäle das Land auf Kosten seiner Bewohner industrialisieren, indem sie es dem auswärtigen Kapital zum Fraß vorwerfen. Was ich die beiden Pai-de-santo nicht gefragt habe: Mit wem halten es die Orixà?
Hätte ich als Sohn des Oxalà das Recht gehabt, diese Frage zu stellen?
(1979)
Den Staat im Herzen treffen?
Das quälende Warten auf ein neues Kommunique der Roten Brigaden über das Los Aldo Moros8 und die hitzigen Diskussionen der Frage, wie man sich verhalten solle, falls es käme (ob man es abdrucken solle oder nicht), haben die italienische Presse zu widersprüchlichen Reaktionen getrieben. Einige Zeitungen haben das Kommuniqué, als es schließlich kam, nicht abgedruckt, aber sich nicht enthalten können, ihm mit Riesenschlagzeilen Publizität zu verschaffen. Andere haben es abgedruckt, aber in so winziger Schrift, daß es nur für Leser mit Sehschärfe 1 zu entziffern war (unannehmbare Diskriminierung). Was den Inhalt betrifft, so war die Reaktion ebenfalls allgemeine Verlegenheit, denn unbewußt hatten alle einen Text voll teutonisch klingender Einsprengsel oder unaussprechlicher Wörter mit fünf Konsonanten hintereinander erwartet, an denen sofort die Hand des deutschen Terroristen oder des KGB-Agenten erkennbar sein würde. Statt dessen sah man sich vor einer langen politischen Argumentation.
Daß es eine Argumentation war, ist keinem Kommentator
entgangen, und die scharfsinnigsten haben sogar bemerkt, daß es eine war, die sich weniger an den »Feind« richtete als an die potentiellen Freunde und Sympathisanten, um ihnen darzulegen, daß die Roten Brigaden kein Häufchen blind zuschlagender Desperados sind, sondern als Avantgarde einer Bewegung gesehen sein wollen, die sich auf nichts geringeres als eine Analyse der internationalen Lage beruft.
Wenn dem aber so ist, dann genügt es nicht zu versichern, das fragliche Kommuniqué sei »hirnrissiges Gefasel, delirant, nebulös und total verrückt«. Es muß nüchtern und aufmerksam analysiert werden. Nur so läßt sich klären, wo der Text, der von recht luziden Prämissen ausgeht, die fatale theoretische und praktische Schwäche der Roten Brigaden aufdeckt.
Wir müssen den Mut haben, offen zu sagen, daß diese »pa-ranoide« Erklärung eine sehr akzeptable Prämisse enthält und, wenn auch auf eine etwas grobschlächtige Art, eine These darlegt, die in der ganzen europäischen und amerikanischen Linken, von den Studenten der 68er-Bewegung und den Theoretikern der Monthly Review bis zu den sozialistisch orientierten Parteien, seit langem vertreten wird. Daß also, wenn eine »Paranoia« vorliegt, diese nicht in den Prämissen steckt, sondern in den praktischen Schlußfolgerungen, die aus ihnen gezogen werden.
Es scheint mir kein Anlaß gegeben, über das »Gefasel« vom
»Imperialistischen Superstaat der Multis« zu lächeln. Vielleicht ist die Art, wie er dargestellt wird, ein bißchen folkloristisch, aber niemand kann sich verhehlen, daß die
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