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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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klassische Musik, Galerienkunst und Bühnentheater), wollte man mit der Rede von der Kultur als Spektakel etwas durchaus Präzises sagen; und zwar im Licht einer (wie auch immer unpräzisen) Ideologie der Kultur mit dem ganz großen K. Mit anderen Worten, man geht von der Voraussetzung aus, Spektakel sei Show, leicht anrüchige Unterhaltung, Entertainment; ein Vortrag dagegen, eine Beethoven-Symphonie oder eine Diskussion über Philosophie seien für die Zuhörer langweilige (und damit »seriöse«) Erfahrungen. Dem Filius, der mit einem schlechten Zeugnis nach Hause kommt, untersagt der gestrenge Herr Vater den Besuch einer »spektakulären« Darbietung, nicht aber den einer »kulturellen« Veranstaltung (die sogar eher als förderlich gilt).
    Ein weiteres Merkmal der »seriösen« Kulturveranstaltung ist: Das Publikum darf nicht mitwirken, es hat stillzusitzen und sich aufs Zuhören oder Zuschauen zu beschränken. In diesem Sinne kann auch ein Spektakel (oder das, was einmal Spektakel im »schlechten« Sinne war) mit der Zeit »seriös« werden, wenn das Publikum nicht mehr aktiv teilnimmt, sondern nur noch passiv dasitzt. Mag sein, daß einst in Athen das Publikum der antiken Komödie johlend und pfeifend Obstkerne auf die Schauspieler spuckte, aber heute, in einem gebührend antikisier-ten Amphitheater, ist dieselbe Komödie eher Kultur als Spektakel, und die Leute sind still (hoffentlich) und lauschen ergriffen (und langweilen sich).
    Neuerdings ist nun aber Beunruhigendes gesche-
    hen. Kulturzentren, die seit Jahren Debatten, Vorträge, Podiumsgespräche organisieren, stehen plötzlich vor einer dritten Phase. Die erste Phase war die normale bis Achtundsechzig: Jemand redete, das Publikum, in überschaubarer Menge gekommen, hörte zu, anschließend ein paar wohlerzogene Fragen, dann alle nach Hause, das Ganze dauerte höchstens zwei Stunden. Die zweite war die Phase von Achtundsechzig: Jemand versuchte zu reden, ein turbulenter Saal bestritt ihm das Recht auf autoritäre Bevormundung, jemand anderer aus dem Publikum trat an die Stelle des Redners (und redete ebenso autoritär, aber das merkten wir erst allmählich), anschließend Abstimmung über irgendeine Resolution, dann alle nach Hause. Die dritte Phase dagegen läuft so: Jemand redet, das Publikum drängt sich in unwahrscheinlicher Zahl, am Boden hockend und auf den Fensterbrettern, im Vorraum und manchmal noch auf der Treppe, erträgt den Redner geduldig eine, zwei, drei Stunden lang, beteiligt sich anschließend noch zwei weitere Stunden lang an der Diskussion und will überhaupt nicht nach Hause.
    Die dritte Phase ließe sich mit exemplarischer Dialektik à la nouvelle philosophie liquidieren: Da haben wir sie, die geistige Wende, die kommen mußte; angeödet von der Politik verlangt die junge Generation (aber auch die ältere) heutzutage nach »wahren Worten«, und was hier Triumphe feiert, ist genau die alte Hohe Kultur! Doch man braucht bloß ein wenig konservativer zu sein als ein nouveau philosophe (was sogar möglich ist, man braucht bloß Altmarxist oder Späthumanist oder früher Frankfurter Schüler zu sein), um sich bei solcher Argumentation etwas unwohl zu fühlen. Denn gewiß, diese neuen Massen (und ich glaube, hier kann man wirklich von »Massen« sprechen, auch wenn sie nicht das Ausmaß der Massen in Fußballstadien oder Popkonzerten erreichen) gehen in kulturelle Veranstaltungen und hören zu, und das mit reger Aufmerksamkeit, und beteiligen sich, und ihre Beteiligung reicht vom klugen und kenntnisreichen Beitrag bis zum Aufschrei der Seele, aber sie verhalten sich dabei, als wären sie auf einem kollektiven Fest. Nicht daß sie mit Obstkernen spucken oder sich nackt ausziehen, aber sie kommen ganz un-verkennbar auch wegen der Kollektivität des Ereignisses – oder, um es mit einem etwas altfränkischen Ausdruck zu sagen, der aber gerade auf diese Erfahrungen wieder zu passen scheint, um beisammen zu sein.
    Von allen Beispielen, die ich anführen könnte (und sie reichen von Symphoniekonzerten im Freien bis zu Debatten über Epistemologie – lauter Gelegenheiten, bei denen man heutzutage nicht mehr die altgewohnten Gesichter sieht), war das verblüf-fendste für mich (auch weil ich selber daran beteiligt war) eine im März/ April 1980 von der städtischen Bibliothek zu Cattolica organisierte Reihe von Vorlesungs- und Diskussionsabenden mit italienischen Philosophen. Ein in jeder Hinsicht erstaunliches Unternehmen, schon was den Ort

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